Dilemma. Dieses Wort wird der Situation nicht einmal ansatzweise gerecht, in der sich Juden in Israel und weltweit seit dem 7. Oktober befinden. Der in Sachsen geborene Autor Marko Martin mit jüdischen Wurzeln hat dazu Betroffene befragt. Oder vielmehr: Er lässt sie erzählen gegen die Sprachlosigkeit. Eine Mutter in Berlin, die Angst um ihr Kind hat und sich in der Öffentlichkeit nicht mehr als Jüdin outet. Junge Aktivisten, welche in Tel Aviv gegen Natanjahus Regierung demonstrieren. Muslimische Israelis, die das häufig vorgefertigte Bild des Westens auf den Kopf stellen. Martin zeichnet das feinfühlige Porträt einer Generation, für die der Holocaust bereits weit weg war und die nun wieder den geballten Judenhass zu spüren bekommen.
Vorgeschichte des Nahostkonflikts
Das „urjüdische Gefühl“ des totalen Ausgeliefertseins. Nach Jahrhunderten ständiger Flucht vor Pogromen und dem tiefen Trauma der NS-Zeit, folgte am 7. Oktober der Angriff in der vermeintlichen Schutzzone, in Israel. Ein Land, das umzingelt ist von Staaten, die mit ständiger Vernichtung drohen. So beschreibt der Autor auch seine persönlichen Dilemmata, als Jude weit weg von Israel. Zum Beispiel als am beschaulich-freundlichen Bodensee, wo Martin gerade Abitur machte, als 1991 Demonstrationen gegen den Irakkrieg und die Auslieferung von Patriot-Abwehrraketen nach Israel stattfanden. Kurz nachdem Saddam Hussein angekündigt hatte, „ganz Israel einem Krematorium gleichzumachen.“ Mitgesponsert von deutschen Firmen, die dem Irak geholfen hatten, Giftgas zu produzieren, mit dem dann tatsächlich auch tausende Kurden getötet wurden.
Äußerst divers, äußerst komplex – Judentum heute
Marko Martin bleibt menschlich nah an seinen Protagonisten. Da ist der tangotanzende jüdische Rentner Baruch in Berlin, der nach dem 7. Oktober von Deutschen aus dem Tangokurs vergrault wird, lediglich Anteilnahme von einem Muslim aus dem Kaukasus und ein Jeside aus dem Irak erfährt. Da ist das junge linke Ehepaar in Tel Aviv, das beständig gegen die Natanjahu Regierung demonstriert, sich aber nach dem 7. Oktober von den Linken der Welt verraten fühlt. Da ist der Friedensaktivist Abie Nathan, dessen Peace Ship mit Radiosender sogar von John Lennon mitgesponsert wurde. Und da ist der homosexuelle Marokkaner Mamoun, der seine muslimischen Landsleute in seinen Berliner Sprachkursen bei antisemitischen Parolen sofort über den Mund fährt. Sowie die muslimischen Israelis, die mit noch mehr Dilemmas zu kämpfen haben, da sie einerseits Familien oder Freunde in Gaza haben, sich andererseits aber dem Land Israel zugehörig fühlen, dem einzig demokratischen Land in Nahost, wo sie zum Beispiel ihre Sexualität offen ausleben können.
Hart angegangen wird die Netanyahu Regierung, die sich nur mithilfe der ultrarechten und ultraorthodoxen Parteien an der Macht halten kann. Sie verschob fast all ihre militärischen Ressourcen auf die besetzte Westbank im Nordosten, sodass sich die Hamas im Südwesten über Stunden mordend und meuchelnd auf dem Nova-Festival und den Kibbuzen im Westen austoben konnte, bevor Hilfe eintraf. Und da sind die Zitate der ehemaligen israelischen Präsidentin Golda Meir wie „Der Frieden wird dann kommen, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“ (S. 50)
Femizide Gewalt wird totgeschwiegen
Der Autor geizt auch nicht mit kontroversen Meinungen, zum Beispiel „… dass der Zionismus gerade aufgrund solcher rassistischen Verleumdungen und als Projekte eines Schutzsuchenden entstanden sei.“ (S. 154). Er zeigt Fragmente, Geschichten und Unbekanntes über ein „winziges und komplexes Land“. Und er klagt die Doppelmoral des Westens an. Zum Beispiel als auf einer Pressetour ausländischer Medienvertreter durch Israel eine überhebliche deutsche Journalistin nicht wusste, dass sich das israelische Militär bereits seit 2005 komplett aus dem „besetzten“ Gaza-Streifen zurückgezogen hat. Er beschreibt die Gedenkfeier zu Naama Levys 20. Geburtstag. Berühmt geworden durch ein Hamas-Video, das zeigt, wie die junge Frau an den Haaren unter jubelnden Allah-Akbar Rufen in ein Fahrzeug gezerrt wird. Ihre Achillesfersen sind durchtrennt, an ihrer Hose prangt einer riesiger, dunkelblauer Blutfleck, der das Schlimmste vermuten lässt. Über das Schicksal der Frau, die zuvor als Volontärin in der „Hands of Peace“ Delegation tätig war, haben sich UN Woman und weitere Hilfsorganisationen lange ausgeschwiegen. Und vermieden es, die sexualisierte Gewalt der Hamas, speziell gegen Frauen, zu verurteilen.
Juden & Muslime kommen zu Wort
Marko Martin sammelt Bilder, Fragmente und Aussagen aus dem winzigen und wahnsinnig komplexen Land am östlichen Mittelmeer. Doch komplex wird von den meisten nicht geschätzt. Das Buch legt den Finger in Wunden und regt dazu an, eigene Ansichten immer wieder infrage zu stellen. Das alles liest sich bisweilen höchst schmerzhaft. Scham, Wut und Trauer verschwimmen hier zwischen den Zeilen zu einem großen Fragezeichen: Wie die verfahrene Situation lösen? Wie kann angesichts all des Hasses, der ausbleibenden Solidarität, uralter Vorurteile, machthungriger Politiker, verblendeter Fanatiker, diesseits und jenseits der Grenzzaunes überhaupt eine Versöhnung möglich sein? Darauf weiß Marko Martin auch keine eindeutige Antwort zu geben. Die Gefühle des anderen anzuerkennen und miteinander ins Gespräch zu kommen, mag ein erster Schritt sein.
Tikkun Olam – die Reparatur der Welt
Ein Buch, das seine Leser betroffen zurücklässt. Mit einem sehr mutigen Autor, der sich auch nicht davor scheute, Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede zur Wiedervereinigung einmal eine – vorsichtig ausgedrückt – andere Sicht nahezubringen. Solcher mutigen Stimmen bedarf es. Ganz egal, ob uns ihre Aussagen gefallen oder nicht. Im Jüdischen gibt es den Begriff Tikkun Olam, übersetzt „Reparatur der Welt“, also eine Wiederherstellung der Harmonie. Ein Job, indem auch nachfolgende Generationen nicht arbeitslos werden.
So endet das Buch mit einer außergewöhnlichen Szene: Neben den quirligen Ausgehmeilen Tel Avivs, wo beim Karaoke auch mal Deutsch gesungen wird, und sämtliche Nationen die Nacht durchtanzen, gibt es einen Küstenabschnitt zwischen dem ultraorthodoxen und säkularen Strandabschnitt. Hier treffen sich jüdische und muslimische Israelis, asiatische und afrikanische Immigranten, ja sogar ein paar Palästinenser zu nächtlichen Partys und Stelldicheins– unter dem Radar der rechtsgerichteten Regierung, der Hetzer, der internationalen Presse. Es könnte alles schön sein, schon jetzt. Gut, dass der Tropen Verlag sich dieses Themas angenommen hat.
Marko Martin: Und es geschieht jetzt.
Tropen, September 2024.
224 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.