Claire hat von ihrem Kollegen Marc erfahren, wie er aus der Führungsetage geflogen ist. Während seine Kollegen wie gewohnt in der obersten Etage ihre Besprechungen abhalten, wurde er eine Etage tiefer versetzt. Er würde auch dort bei Bedarf informiert werden. Doch dies geschah nicht. Marc wurde vergessen. Nur Claire erinnert sich an ihn und seine Frage, ob sie mit ihrem Fuß gegen eine bestimmte Treppenstufe stoße. Inzwischen ist ihr Zeh wundgestoßen, und sie wechselt täglich das Pflaster. Auch sonst stößt sie gegen Hindernisse, die nur sie nicht sehen kann.
Anfangs sah ihr Karrieresprung so vielversprechend aus. Sie fühlte sich dazugehörig und arbeitete mit großem Einsatz. Doch heute gibt es bei den üblichen Treffen mit den Kollegen Gespräche, die sie ausschließen. Sie kennt nicht die Vornamen bestimmter Leute, und ihr fehlt das notwendige Netzwerk. Mitten in einer Besprechung erkennt Claire auf einmal die tatsächliche Distanz, vor der sie so lange die Augen verschlossen hat. Völlig unerwartet bekommt sie keine Luft mehr. Sie muss raus. Über eine Letter klettert sie auf das Dach, um frische Luft zu atmen. Dort oben ist die Perspektive eine andere, und sie erlaubt sich eine ehrliche Analyse über ihr aktuelles Leben.
Die Autorin Mariette Navarro schreibt vorwiegend poetische Prosatexte. Nach ihrem Romandebüt Über die See ist 2025 ihr zweiter Kurzroman Am Grund des Himmels erschienen. Auch dieses Mal liegt der Schwerpunkt im inneren Monolog, der zum Wendepunkt führt. Claire erkennt, dass es scheinbar keinen Ausweg aus dieser Sackgasse gibt: Alles oder nichts, oben bleiben oder in die Bedeutungslosigkeit fallen. Beide Richtungen sind für sie keine Option. Sie braucht eine neue Perspektive, denn es geht um ihre Zukunft und ein lebenswertes Umfeld.
In ihrer poetischen Sprache beschreibt die Autorin den Prozess des Erkennens und Nachdenkens. Und je mehr Claire sich eingesteht, umso deutlicher sieht sie einen menschenfeindlichen und in ihrem Fall, einen frauenfeindlichen Lebens- und Arbeitsraum. „Ich bin überzeugt davon, dass sich die meisten unserer Gewohnheiten auch nach einer Neuausrichtung nicht ändern, und dass wir uns gar nicht so sehr weiterentwickeln. Ich frage mich auch, mit welchem Körper man in die Freiheit tritt. Meiner ist jedenfalls dreckig und klatschnass.“ (S. 60, 61)
Claires Sinnestäuschungen betonen, wie fremd und falsch ihr Arbeitsplatz geworden ist. Sie nähren nicht nur ihre Selbstzweifel. Claire hat verlernt, genau hinzusehen. Während das Unwetter Claires falsche Wahrnehmungen gerade rückt, wird die Wahrnehmung der Kollegen drastisch verändert. Sie verlieren ihre Sicherheit.
Dem Anhang ist zu entnehmen, Mariette Navarro habe einen Teil von Claires innerem Monolog aus ihrem Hörspiel entnommen. Dies kann man bei der Lektüre spüren: Inhaltlich besteht ihr Kurzroman aus zwei Teilen. Im ersten Teil leitet Claires Verweilen auf dem Dach eine Veränderung in ihrem Denkprozess ein. Darin eingebettet taucht so nach und nach die Perspektive der Arbeitskollegen auf, deren Gewichtung im zweiten, handlungsbetonten Teil mehr Raum einnimmt. Die Autorin beschreibt darin die Irritation der Kollegen und die Folgen von Claires Entscheidung.
Insgesamt hinterfragt Mariette Navarro die Sinnfrage des Lebens und die Identifizierung mit der eigenen Arbeit. Denn Menschen sind so viel mehr als ihre berufliche und gesellschaftliche Stellung, auch wenn man dies bei der üblich gewordenen Statusabfrage vergisst.
Mariette Navarro: Am Grund des Himmels
Verlag Antje Kunstmann, August 2025
Gebundene Ausgabe, 160 Seiten, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.