Lou Bihl ist selbst Ärztin und hat sich lange intensiv der Betreuung von Krebspatienten gewidmet. Sie weiß also, wovon sie schreibt, wie auch schon in ihren bisherigen Romanen, besonders „Ypsilons Rache“, wo auch das Thema Krebserkrankung eine zentrale Rolle spielte. „Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben“ ist für mich der bisher intensivste Roman der Autorin. Emotional, berührend, dennoch sachlich und klar, fundiert, konsequent und kompetent in der Argumentation. Klar und definiert in der Sprache, niemals oberflächlich oder respektlos.
„Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben“, sagt Antonia, Marlenes Zwillingsschwester, in einem Gespräch mit Marlene über ihren Entschluss, sich dem Schweizer Sterbehilfeverein Dignitas anzuschließen, um selbst bestimmen zu können, wann sie ihrem Leben ein Ende setzen möchte. Antonia leidet an einer unheilbaren Nervenkrankheit und möchte die Kontrolle über ihr Leben behalten können, solange es geht. Für Marlene ist die Vorstellung, Antonia in die Schweiz zum Sterben zu begleiten, unendlich grausam, auch wenn sie Tonis Entscheidung nachvollziehen kann.
Sie redet darüber mit Helena, ihrer besten Freundin seit Studientagen. Helena ist inzwischen engagierte Hausärztin und hat eine Zusatzausbildung in Palliativmedizin absolviert, um ihre Patienten noch kompetenter betreuen zu können. Das Thema Sterben ist ihr also absolut vertraut. Auch Marlene, die als Wissenschaftsjournalistin erfolgreich ist, nachdem sie ein Pharmazie- und parallel ein Journalistikstudium abgeschlossen hat, ist es kein fremdes Terrain. Marlene und Helena – das doppelte Lenchen – sind seit den ersten Tagen ihres Studiums eng befreundet, auch die Zeit, die Marlene in den USA verbracht hat, hat daran nichts geändert. Die Beziehung wird allerdings noch einmal enger, als Marlene nach Deutschland zurückkommt und auch wieder in der gleichen Stadt lebt wie Helena und ihre kleine Familie. Auch wenn Julian, Marlenes Ehemann und Urs, Helenas Ehemann, sich zu Anfang nicht grade toll finden, verbindet doch alle vier eine gute Freundschaft. Eine Freundschaft, die Helena viel abverlangt. Als Marlene selbst an einer besonders bösartigen Form von Brustkrebs erkrankt, braucht sie die Freundin auch als Ärztin. Für Helena eine schwierige Situation, in der ihr Mann sie warnt, die professionelle Distanz nicht wahren zu können.
Das Thema Sterben und Tod wird für Marlene zum beherrschenden, auch in den Gesprächen mit ihrer besten Freundin. Helena kann ihrer Freundin zwar versichern, für sie da zu sein und ihre medizinische Betreuung zu übernehmen, aber den Wunsch nach assistiertem Suizid, wenn es denn für Marlene so weit sein sollte, kann sie ihr nicht erfüllen. Assistierter Suizid ist in Deutschland strafbar. Bis zum Urteil des BVerfG im Februar 2020, das eine Neuregelung des §217 erforderlich gemacht hat. Helena ist in einem ernsthaften Konflikt, den Marlene zwar nachvollziehen kann, aber nicht gerne akzeptiert. Dennoch kann sie auf die Freundin und Ärztin zählen, und auch Julian, ihr Mann, weiß Helenas Unterstützung in dieser Zeit zu schätzen. Marlene bewahrt sich ihren Humor und soweit es geht auch ihre Lebensfreude bis zum Schluss und versucht, es ihrem Mann und ihren Freunden leicht zu machen, sich auf den Abschied vorzubereiten.
Ein sehr intensiver Roman um die Themen Freundschaft und die Kraft der Liebe, um das viel und kontrovers diskutierte Thema selbstbestimmtes Sterben und die mögliche Hilfe dabei. Emotional sehr berührend, dennoch sachlich und fundiert.
In einem umfangreichen Anhang werden alle medizinischen Fachbegriffe erläutert, die medizinischen und andere Quellen genau benannt und aufgelistet, ebenso wie die aktuelle Rechtsprechung zum Thema assistierter Suizid.
Lou Bihl: Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben
Unken-Verlag, Mai 2025
272 Seiten, Hardcover, 22,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Ertz.