Kris van Steenberge: Verlangen

Die Geschichte der Familie Duponselle beginnt etwa 1880 mit dem Mädchen Elisabeth, der Tochter des Schmiedes in dem belgischen Dorf Woesten. Zum Leidwesen der Eltern liebt sie das eigenständige Denken und darf keine weiterführende Schule besuchen. Denn in den Augen der Mutter ist Elisabeths Hilfe beim Klöppeln wichtiger als Bildung. Ihr Lernwillen bleibt und auch der Wunsch, aus der Enge des Dorfes auszubrechen. Als Elisabeth den jungen Arzt Guillaume kennenlernt, sieht sie ihre Chance. Doch Guillaume nimmt sie nach der Hochzeit nicht mit in die Stadt, sondern zieht in ihr Elternhaus ein, um dort zu praktizieren. Schon bald wird sie Mutter von Zwillingen, von denen der Zweitgeborene schwer verunstaltet ist. Daran leidet nicht nur die Ehe. Elisabeths sehnlichster Wunsch, woanders ihr Glück zu suchen, scheint ein unerreichbares Ziel zu bleiben.

Der Dramatiker, Regisseur und Lehrer Kris van Steenberge hat mit seinem packend erzählten Familiendrama großes Kino geschaffen. In fünf Kapiteln gibt er jedem Familienmitglied genügend Raum, sich selbst, seine Motive und Gefühle zu offenbaren. Den Auftakt gestaltet Elisabeth. Danach erzählen ihr Ehemann und die beiden Söhne, mal jeder allein oder als Einheit ihre Geschichte. Hervorzuheben sind die wunderbar ausgearbeiteten Charaktere, die viel Spielraum für Empathie geben. Jeder aus der Familie interpretiert prägnante Ereignisse auf seine Weise und trifft folgenschwere Entscheidungen im Alleingang. Atmosphärisch dicht und mit immer neuen Details entwickelt das familiäre Drama eine intensive Dynamik, die auch beim Wechsel der Erzähler über einen durchgängigen Spannungsbogen verfügt.

Das Thema »Wie viel Leid durch die Suche nach Glück und Liebe entsteht« verleiht dem historischen Roman Aktualität. Das Schicksal eines Menschen wird hier nicht als gottgegeben dargestellt, sondern als ein Spiel nach eigenen, unlogischen Regeln.

Der Sohn Valentijn betrachtet Zufälle von der pragmatischen Seite. Das Schicksal mache manchmal Fehler, glaubt er. Deshalb sei es jedem erlaubt, das Spiel ganz schnell in die Hand zu nehmen.

»Ich glaube, man kann das Schicksal überlisten.« (S. 389)

Valentijns glücklicher Zufall erinnert an märchenhafte Fügungen, die dem Helden zur Seite stehen. Weil er zu diesem Zeitpunkt noch jung ist, dürfte das Schicksal recht bald wieder mitspielen.

Kris van Steenberges Debütroman »Verlangen« erhielt 2014 Preise als bestes flämisches Debüt und wird verfilmt. Leider ist die Lektüre viel zu schnell vorbei. Das Verlangen nach mehr Kopfkino bleibt.

Kris van Steenberge: Verlangen.
Klett-Cotta, August 2016.
438 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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