Kathrin Schrocke: Weiße Tränen

Der sechzehnjährige Lenni lebt im Schwarzwald. Seine Heimatstadt, das Kant-Gymnasium, der Familienbetrieb seiner Eltern und seine Freunde bestimmen sein Leben. Und dann sind da noch die Lehrer, insbesondere Lennis Lieblingslehrer Prasch, der ihm in den ersten Jahren so geholfen hat.

Lenni hat sich daran gewöhnt, nur auf das Vordergründige zu achten. Witze sind doch nur Witze, oder? Und Unangenehmes hat er gelernt zu ignorieren.

An dem Tag, an dem Benjamin in der Schule auftaucht, bekommt die Fassade der Anständigkeit Risse. Denn Benjamin ist schwarz und reagiert ganz anders, als jeder erwartet. Er ist der erste schwarze Jugendliche im Kant-Gymnasium und fällt nun doppelt auf:

„Woher kommst du, Junge?“ fragte Prasch …

… Aus Leipzig.

… Ich meine, wo kommst du wirklich her? … Somalia oder Ghana vermute ich?

„… Ich bin in Leipzig geboren. Meine Mutter ist auch in Leipzig geboren …“

… Ein Ossi also …

Wo kommen Sie denn her?“ (S. 23-24)

Benjamin zeigt unter anderem Serkan, dass die bisher empfundene Ausgrenzung tatsächlich stattfindet und absolut nicht in Ordnung ist. Auch andere Dinge sind nicht in Ordnung. Sie zu benennen, schockt Schüler und Lehrer zugleich. Keiner von ihnen will ein Rassist genannt werden.

Die spannend erzählte Geschichte erinnert teilweise an das Märchen über die neuen Kleider des Kaisers. Ein Kind sagt in dieser Geschichte die Wahrheit und bringt damit die heile Welt der Selbsttäuschung durcheinander.

Von einer Selbsttäuschung erfuhr auch die engagierte Autorin Kathrin Schrocke, als sie die Antirassismus-Trainerin Tukopa Ogette für eine Beratung aufsuchte. Begriffe wie Weiße Tränen bekamen auf einmal eine Bedeutung. Und festverankerte Klischees und Vorurteile haben ihr einen Spiegel vorgehalten, der bei ihr einen Denkprozess in Gang setzte. Der Rat, aus der Perspektive der privilegierten Weißen versteckte Fremdenfeindlichkeit und Vorverurteilung offenzulegen, führte zu diesem feinen, augenöffnenden Jugendroman. Das Besondere an diesem spannend zu lesenden Buch ist Lennis schmerzhafter Prozess der Erkenntnis und des Verstehens. Anfangs ist er verwirrt über seine Gefühle, als sich sein bester Freund Serkan enttäuscht von ihm abwendet und seine Zeit lieber mit Benjamin verbringt.

Kathrins Schrockes Roman macht Mut, genau hinzusehen und die Wahrheit zu sagen, auch wenn dann die Schwierigkeiten erst richtig anfangen werden. Wer ignoranten Menschen die Meinung sagt, erntet bekanntlich keine Blumen.

Kathrin Schrocke: Weiße Tränen

Mixtvision Verlag, August 2023

240 Seiten, Hardcover, 17,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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