Taras Augen haben es ihm angetan. Alún kann sie einfach nicht vergessen. Vierzehn Jahre lebten sie nebeneinander. Anfangs waren sie Nachbarn, dann Freunde. Mit der Pubertät kamen die Liebe, erste Missverständnisse und Verletzungen. Wäre die Explosion nicht gewesen, wäre vielleicht alles anders gelaufen. Aber die Explosion hat alles verändert. Sie hat die nähere Umgebung vergiftet, Menschen getötet und Häuser zerstört.
Alún hat Tara buchstäblich aus den Augen verloren. Seine Eltern sind Ärzte und waren bei den ersten Anzeichen der Explosion extrem schnell, sich und ihre drei Kinder zu retten. In der gesicherten Zone lebt er nun wie ein Fremder. Seine Eltern streiten sich, und seine beiden Schwestern versuchen wie er, irgendwie mit der ständigen Überwachung und Ausgrenzung klarzukommen. Nur das Zeichnen und Malen gibt Alún Halt. Er hat angefangen, Taras Augen auf Kacheln zu malen. Sie sehen so lebendig aus, als würden sie ihn direkt ansehen. Eines Tages erhält Alún von Tara eine Textnachricht. Sie verändert alles.
Die Leipziger Autorin Katharina Bendixen hat viele Talente. Nach ihrem Studium über Buchwissenschaft und Hispanistik übersetzte sie Kinder- und Jugendbücher aus dem Englischen. Als engagierte Autorin widmet sie sich der Thematik der Autor*Innenschaft. Und nebenbei werden ihre Texte für Stipendien und Förderpreise ausgezeichnet. Dass ihr erster Jugendroman etwas Besonderes ist, erkennt man bereits an der außergewöhnlichen Buchgestaltung. Taras Augen gewinnen eine Bedeutung, die sich so nach und nach in der fesselnden Lektüre heraus kristallisiert. Die erste Liebe, die Alún nicht mehr loslässt, reißt mehr Grenzen ein, als er anfangs begreift. Seine Aktivitäten setzen Zeichen, die viele Menschen unterschiedlich interpretieren.
Die Themen Umweltzerstörung und totale Überwachung eines brutalen Systems sensibilisieren automatisch den Fokus auf die politische Komponente. Die Autorin beschreibt vor diesem Hintergrund, wie engagierte Menschen aus ihrer Deckung gehen, um Widerstand zu leisten. Wo genau im asiatischen Raum und wann die Geschichte von Tara und Alún beginnt, ist genauso vage wie die Frage, ob das diktatorische System von einem Konzern ausgeht oder ob die Zerstörung von Land und Menschen mit Billigung korrupter Politiker möglich wurde. Stattdessen lässt die Autorin Tara und Alún aus ihrer Sicht erzählen, was sie voneinander trennt und wie sie versuchen, sich alleine in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Während Alún im sicheren und total überwachten Sektor unglücklich ist, lebt Tara in der verseuchten Zone mit einigen anderen Rückkehrern, die alle etwas gemeinsam haben: Armut und keine schulische oder berufliche Perspektive. Dieses trennende Entweder-oder versucht Alún zu überwinden. Die mitreißende Geschichte zeigt eine Mischung aus wachsender innerer Leere und einer starken Sehnsucht nach Liebe. Sie sind der Motor für Spannung und eine politische Haltung. Katharina Bendixens gelungener Roman hat deshalb viele Argumente, in der Welt der Jugendliteratur ein echter Klassiker zu werden.
Katharina Bendixen: Taras Augen.
Mixtvision, Februar 2022.
384 Seiten, Taschenbuch, 17,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.