Nichts ist so wie es scheint oder ein Lehrstück in Sachen subjektiver Wahrnehmung. Joël Dicker legt hier wieder einen tollen Roman hin, hervorragend konstruiert und wer seinen Vorgänger, „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, gelesen hat, der denkt sich, sieh mal an, hier ist er wieder, unser Marcus Goldman, der neue Stern am Literaturhimmel, der geplagt von einer Schreibblockade, sich irgendwo in ein Häuschen seines ehemaligen Professors einmietet, um endlich seinen neuen Roman zu schreiben, auf den seine Agentur und die Welt wartet. Und ähnlich wie bei Quebert wird ihm die Idee, bzw. der Stoff für den Roman, auf dem Tablett serviert. Er schreibt einfach das auf, was ihm widerfahren ist. Es ist seine Geschichte und die Geschichte der Goldmans. Genauer die der Goldmans aus Baltimore und auch die der Goldmans aus Montclair, New Jersey. Marcus‘ Vater und sein Onkel Saul, der Bruder seines Vaters, stammen vom alten Goldman ab, der erfolgreich eine Firma gründete und in die er seine beiden Söhne nach Abschluss ihrer Studienzeit, als legitime Nachfolger aufbauen will. Onkel Saul und der Vater von Marcus heiraten jeweils und beide Pärchen haben einen Sohn: Hillel in Baltimore und eben Marcus von den Montclairs. In Baltimore ist die erfolgreiche, wohlhabende Welt zu Hause und die Montclairs in New Jersey haben sowohl finanziell als auch emotional ein wenig den Anschluss verloren. Zumindest meint das der kleine Marcus, wenn er bei den großen Baltimores zu Besuch ist oder wenn pompös Thanksgiving gefeiert wird. Dazu kommt dann bei den Baltimores ein weiterer Pflegesohn namens Woody. Hillel, Woody und Marcus sind in etwa gleichaltrig und werden zur Goldman Gang wenn sie sich treffen. Gemeinsam verlieben sie sich in Alexandra, die zwar zwei Jahre älter ist, aber die das Leben der Goldmans Jungs tragend und tragisch mit bestimmt. Ihr Vater ist ebenfalls erfolgreich und alles scheint eitel Sonnenschein zu sein, aber es scheint eben nur so. Denn das Buch ist die Geschichte einer finalen Katastrophe und vieler Kleinerer vorher. Bis es zum Showdown kommt, müssen wir quasi von jeder der handelnden Protagonisten die eigene Sichtweise verstehen und verstehen dann, dass nichts ist so wie es scheint. Jeder hat seine Schwachstellen, bis hin zu Psychopathologien, so dass die Katastrophe unvermeidlich wird. Spannend bis zuletzt. So spannend, das der mittlerweile berühmte Schriftsteller Marcus Goldman, die Geschichte der Goldmans als Icherzähler einfach aufschreibt und – wen wundert es – wieder einen Bestseller produziert.
Joël Dicker: Die Geschichte der Baltimores.
Piper, Mai 2016.
512 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Fred Ape.