Jess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas

Dieses Buch ist wie ein schwerer Wein. Den man am besten in kleinen Schlucken trinkt und nicht zu viel davon auf einmal. So hat man lange etwas davon und bekommt keinen dicken Kopf. Allerdings dauert es etwas länger, die Flasche zu leeren.

Und genauso muss man das neue Buch von Jess Kidd lesen: in kleinen Häppchen und mit Genuss. Die überbordende Fantasie dieser Autorin verlangt von der Leserin Ausdauer und Durchhaltevermögen. Dafür wird sie mit einer detailreichen und spannenden Geschichte belohnt.

Bridget Devine, genannt Bridie, arbeitet im London des Jahres 1863 als Privatdetektivin. Allein das ist ja schon mal eine fantastische Ausgangssituation. Sie bekommt den Auftrag, ein verschwundenes Kind zu suchen. Alles was mit diesem Kind zu tun hat ist geheimnisvoll und absonderlich. Denn Christabel, so der Name des Kindes, ist kein normales Mädchen.

Begleitet wird Bridie bei ihrer Suche von Ruby Doyle. Der allerdings seit kurzem verstorben ist. Dafür kann er durch Wände gehen und auf seiner Haut schwimmt eine tätowierte Meerjungfrau und ein Anker lichtet sich selbst.

Während Bridie versucht, ihren Auftrag zu erfüllen, begegnet sie kriminellen Schaustellern und besessenen Ärzten, beide gleichermaßen auf der Suche nach menschlichen Kuriositäten. Und sie begegnet ihrer eigenen Vergangenheit in Gestalt eines Mannes, von dem sie gehofft hatte, er wäre tot.

Bridies Vergangenheit ist genauso absonderlich und kurios. Sie hat schon als Kind als Leichensammlerin gearbeitet und bei Obduktionen geholfen. Bridie Devine ist ein herrlicher Charakter, energisch, konsequent, liebenswert und, jedenfalls in den Augen von Ruby Doyle, hübsch. Sie hat nicht nur ihre Haushälterin Cora Butter aus den Fängen eines grausamen Zirkusdirektors gerettet, sondern auch noch etliche Kinder vor ähnlich schlimmen Schicksalen bewahrt. Daher liegt ihr dieser neue Auftrag im doppelten Sinn besonders am Herzen.

In das Buch von Jess Kidd muss man regelrecht eintauchen. Wenn sie die Straßen Londons beschreibt, ist die Leserin mittendrin. Man riecht, fühlt, hört und spürt den Gestank und das Elend in den Gassen und den Gossen. Das Buch hat etwas von Charles Dickens, ein wenig von Wilkie Collins, ein bisschen von Edgar Allen Poe und ganz viel Jess Kidd. All die seltsamen Figuren, die sonderbaren Wesen und die eigentümlichen Menschen, die das Buch bevölkern, sind wunderbar ausgedacht, plastisch und mit großer Liebe zum Detail beschrieben.

Ein ganz großes Lob an dieser Stelle geht an die beiden Übersetzer Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, die auch schon die beiden vorherigen Bücher von Jess Kidd hervorragend übersetzt haben. Es ist tatsächlich wunderbar, eine solch gelungene Übersetzung im Team zu schaffen, ohne dass es Brüche in Stil oder Ausdrucksweise gibt.

Jess Kidds Bücher strotzen vor Fantasie. Manchmal ist es fast ein bisschen zu viel des Guten, dann muss man als Leserin wieder innehalten und nach Luft schnappen, bevor man im Stande ist, der spannenden Geschichte weiter zu folgen. Aber ihre Bücher, und ganz besonders dieses letzte, sind es wert, dass man jedes Wort und jeden Satz wahrnimmt und auskostet. Ihre Bücher sind nichts für Schnellleser, sondern etwas für Genießer.

Jess Kidd: Die Ewigkeit in einem Glas.
DuMont Buchverlag, November 2019.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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