Ismail Kadare: Der Anruf

Ismail Kadares Roman „Der Anruf“ behandelt ein Ereignis der stalinistischen Ära, das 1934 in Moskau stattfand: ein kurzes, legendäres Telefongespräch zwischen dem Dichter Boris Pasternak („Doktor Schiwago“) und dem Diktator Josef Stalin. In diesem Gespräch soll Stalin gefragt haben, was Pasternak von seinem Kollegen Ossip Mandelstam halte. Pasternak soll geantwortet haben, dass beide Schriftsteller unterschiedliche politische Ansichten haben. Mandelstam starb einige Zeit später entkräftet und halb verhungert in einem Arbeitslager nahe Wladiwostok. Pasternak quälte sich später mit der Frage, ob er seinen Kollegen hätte retten können. Ismail Kadare (1936-2024) nutzt diese historische Begebenheit, um Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Kunst anzustellen.

Der Roman ist handlungsarm und besteht hauptsächlich aus Betrachtungen Kadares. Er reflektiert über das moralische Dilemma, vor dem Pasternak stand, und überlegt, wie er selbst in einer ähnlichen Situation mit dem albanischen Diktator Enver Hodscha gehandelt hätte. Diese Passagen erfordern beim Leser ein gewisses Maß an Vorwissen und Interesse an der historischen Konstellation.

Beziehung zwischen Macht und Kunst

Ein zentrales Thema des Buches ist die Beziehung zwischen Macht und Kunst. Kadare thematisiert die Gefahren, denen Künstler unter totalitären Regimen ausgesetzt sind, und stellt die Frage nach der Verantwortung von Schriftstellern in Zeiten politischer Unterdrückung. Die Entscheidung Pasternaks, sich nicht klar für Mandelstam einzusetzen, wird als Ausdruck einer tiefen Angst vor den Konsequenzen interpretiert. Dies spiegelt Kadares eigene Erfahrungen als albanischer Schriftsteller wider, der die repressiven Strukturen seiner Heimat kennt.

Ein Hauch von Mythos

Die Erzählung um das Telefonat ist von einem Hauch von Mythos umgeben. Es kursieren mehrere Versionen, wie das Gespräch verlaufen ist. Kadare seziert die verschiedenen Interpretationen und zeigt auf, wie Geschichte durch Erzählungen geformt wird. Diese Herangehensweise verleiht dem Text eine gewisse literarische Qualität, die jedoch auch dazu führt, dass sich der Autor in philosophischen Überlegungen verliert. Die Frage bleibt: Was hätte Pasternak tun können? Und was sagt dies über die Möglichkeiten des Einzelnen aus, gegen das Unrecht anzukämpfen?

Fazit: „Der Anruf“ ist ein herausfordernder Roman, der sich weniger durch eine spannende Handlung als durch seine tiefgründigen Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Kunst definiert.

Ismail Kandare: Der Anruf
S. Fischer, Januar 2025
übersetzt aus dem Albanischen von Joachim Röhm
176 Seiten, gebundene Ausgabe, 24 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.

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