Elisabeth Bathori, Historikerin und Expertin für Postkartenforschung, fällt nach dem tragischen Verlust ihres Lebensgefährten in ein tiefes Loch. Soziale Kontakte beschränkt sie auf das unbedingt notwendige Mindestmaß, an die Fortsetzung ihrer Tätigkeit als Professorin ist zunächst nicht zu denken. Um sich abzulenken, nimmt sie eine Stelle in einem Fotoarchiv an. Sortieren, zuschneiden, katalogisieren: mit Hilfe der eintönigen Arbeit schafft sie es zeitweise, ihren Schmerz einzulullen.
Dann bietet Alix de Chalendar, eine ältere Dame, dem Institut eine Sammlung von Briefen, Fotos und Postkarten an, die ihr Onkel Alban de Willcot im ersten Weltkrieg von der Front an seine Schwester Blanche und an seinen Freund, den berühmten Dichter Anatole Massis, geschickt hat. Dokumente von unschätzbarem historischem Wert, wie Elisabeth schnell erkennt. Doch Alix gibt die Sammlung nur unter zwei Bedingungen weiter: Elisabeth muss die Inventarisierung übernehmen und sie muss als ihre Testamentsvollstreckerin fungieren.
Als Alix nicht lange danach stirbt und ihr ein Haus in der Provinz vermacht, macht Elisabeth einen weiteren Schritt zurück ins Leben. Sie nimmt sich des Nachlasses und des Hauses an. Doch die Unterlagen werfen zunächst mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Steckt hinter der Beziehung von Alban und Anatole mehr als nur Freundschaft? Was haben die geheimnisvollen Andeutungen über ein gemeinsames Projekt zu bedeuten? Welche Rolle spielt Diane, die Alban in seinen Briefen häufig erwähnt?
Elisabeth beginnt zu recherchieren, reist in die Schweiz, nach Belgien und nach Portugal, trifft Menschen, die nach der verlorenen Geschichte ihrer Angehörigen suchen und andere Historiker, schließt dabei Freundschaften und kommt dem Portugiesen Samuel näher. Schritt für Schritt kommen weitere Details ans Licht, eine wahrscheinliche Version der Vorkommnisse entsteht. Doch immer wieder stellen neue Quellen und Puzzleteile alles auf den Kopf. Annahmen erweisen sich als falsch, der Einfluss weiterer Personen wird sichtbar, Geheimnisse und Lügen werden aufgedeckt. Die Spuren führen auch in den zweiten Weltkrieg. Noch leben einige der Zeugen dieser Zeit, die Elisabeth befragen kann.
Immer tiefer taucht Elisabeth in die Vergangenheit ein, erlebt die Schrecknisse des Krieges, Verrat, Intrigen, aber auch die Liebe der jungen Leute, deren Leben sie versucht, zu rekonstruieren. Akribisch sammelt sie Informationen und verliert dabei manchmal auch ihre professionelle Distanz. Nicht nur einmal stellt sie sich die Frage, was sie den Angehörigen zumuten kann und wie sie mit brisanten Informationen in der Öffentlichkeit umgeht.
Hélène Gestern, die an der Universität von Lorraine Literatur lehrt, verknüpft in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman kunstvoll verschiedene Zeitebenen. In Briefen und Tagebucheinträgen lässt sie die Protagonisten selbst zu Wort kommen. Dazwischen erzählt Elisabeth Bathori ihre eigene Geschichte, ihre Verzweiflung, ihre Ängste, ihre Freude. Die Nähe, die dadurch entsteht reißt mit und als Leser oder Leserin gerät man auf eine emotionale Achterbahn, die oft ins Bodenlose zu führen scheint. Doch immer wieder blitzt Hoffnung auf, wendet sich manches zum Guten.
„Der Duft des Waldes“ ist ein Buch, das ich nur ungern aus der Hand gelegt habe. Dazu trägt sicher auch die gelungene Übersetzung aus dem Französischen von Brigitte Große und Patricia Klobusiczky bei. Trotz seiner 700 Seiten, machen es die unerwarteten Wendungen spannend bis zum Schluss. Der Roman vermittelt eindrücklich, wie wichtig es ist, sich zu erinnern und Menschen aus der Vergangenheit ihre Gesichter und ihre Geschichten zurück zu geben. Denn auch was vor langer Zeit geschehen ist, wirft Schatten oder Licht ins Heute. Nicht zuletzt ist „Der Duft des Waldes“ ein Antikriegsroman, in dem man die Absurdität und Grausamkeit des Krieges hautnah spüren kann.
Ein beeindruckendes und bewegendes Buch, klare Empfehlung!
Hélène Gestern: Der Duft des Waldes.
Fischer, Juli 2018.
704 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
Wie schön, dass dieser großartige Roman auf Deutsch erschienen ist. Aber er ist nicht, wie die Formulierung nahelegt, auf Deutsch vom Himmel gefallen oder hat die Lektorin als Vision im Schlaf überwältigt, nein! Vier Menschen (Disclaimer: Ich bin einer davon) haben hingebungsvoll daran gearbeitet, dass er „auf Deutsch erscheinen“ konnte – man nennt es auch Übersetzung. Und deren Urheber zu nennen gehört zum Mindestrepertoire an rezensentischem Anstand. Schade, sonst hätte ich die Kritik gern geteilt.
Hallo Frau Große,
Sie haben Recht: Die Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzern ist anspruchsvoll und verlangt ein hohes Maß an Kompetenz und Engagement. Deshalb sollte sie auch erwähnt werden. Bitte entschuldigen Sie, dass ich das versäumt habe. Wir werden meine Rezension entsprechend ergänzen und ich werde das auch in Zukunft berücksichtigen.
Mit freundlichen Grüße
Beate Fischer
Liebe Frau Fischer,
danke!