Giuseppe Fava: Ehrenwerte Leute (1975)

»… Ihr war zum Weinen zumute: Elena Vizzini 31 Jahre alt, Halbwaise, Volksschullehrerin ohne Anstellung, … , ein bleiches Gesicht, das schon sanft zu verblühen begann.« (S. 9)

Und dann gewinnt sie einen Wettbewerb, der ihr eine Anstellung als Lehrerin in Montenero Valdemone, einem sizilianischen Bergdorf, verschafft. Einen ganzen Tag dauert ihre Reise in den Süden. Was sie erwartet, ist ein in sich geschlossenes Kastensystem, in dem die Armen und Reichen seit Generationen ihren Platz haben. Alle tragen schwarz, sind schweigsam, duldsam und warten auf das nächste Ereignis. Nach Elenas Ankunft häufen sich die Ereignisse. Ein Mann, der sie am ersten Abend angeht, sitzt am nächsten Morgen mit einer Blume im Mund und einer Kugel im Kopf auf der Piazza nicht weit von der prunkvollen Kirche entfernt. Weitere Männer sterben. Kurz darauf steht Elena im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen und bleibt in der Aufmerksamkeit aller Dorfbewohner.

Giuseppe Fava (1925 – 1984) wurde in Sizilien geboren und ermordet. Der Kampf gegen Gewalt und insbesondere gegen die Mafia dürfte im Zentrum seines Lebens gestanden haben. Sein abgeschlossenes Studium der Rechtswissenschaften, die Arbeit als Journalist und Autor halfen ihm dabei. Insbesondere die sozialen Missstände waren sein Lebensthema. In seinen Texten gelingt ihm das Kunststück, verschiedene Schicksale mit der Politik, Aufklärung und Literatur zu verknüpfen. Sein 1975 veröffentlichter Roman »Ehrenwerte Leute« war sein erfolgreichstes Buch.

Das Besondere in diesem Roman ist eindeutig die Frauenfigur Elena. Sie sagt selbstbewusst ihre Meinung, raucht und flucht wie ein Mann und hat recht schnell einen unermüdlichen Liebhaber. Fava beschreibt ihr Liebesleben genauso offen wie ihr soziales Engagement. Im streng katholischen Sizilien dürfte Elenas freizügiges Leben nicht nur ein Skandal sondern auch eine Beleidigung für alle Moralapostel gewesen sein. Der Leser wird zu Elenas hilflosem Begleiter und erkennt vor ihr, was in dem Dorf schief läuft. Deshalb kann er die Aussagen einzelner Bewohner anders als die ratlose Heldin einordnen. Aus den unheilverkündenden Ahnungen bezieht der Roman seine Spannung.

Es bleibt die Frage, was passiert, wenn Elenas Augen eines Tages offen sind, und der Verstand versteht.

Giuseppe Fava: Ehrenwerte Leute (1975).
Unionsverlag, Februar 2014.
224 Seiten, Taschenbuch, 12,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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