Das Manifest einer Autorin zu lesen, deren Bücher man bis dato nicht kannte, mag als seltsamer Einstieg in ihr Werk erscheinen. Doch kommt es mir so vor, als schaffe Bernardine Evaristo es, mich gerade durch ihre Anfang 2022 publizierte Neuerscheinung „MANIFESTO – Warum ich niemals aufgebe“ (aus dem Englischen von Tanja Handels) an ihren Beitrag zur Weltliteratur heranzuführen. Die Booker-Prize-Preisträgerin schreibt in sieben Kapiteln über ihren Weg zu der Frau, die heute von zahllosen Buchcovern schaut – stolz, bunt, welterfahren. So geht sie von ihrer Kindheit im überwiegend weiß geprägten London der 60er Jahre aus – als eines von acht Kindern einer englischen Mutter und eines nigerianischen Vaters. Sie erzählt von Steinen, die an die Haustür der Familie geworfen wurden und von der unglaublichen Standhaftigkeit ihrer Eltern im Umgang mit Rassismus und Alltagsanfeindungen. Sie erzählt von der Stärke der Liebe ihrer Eltern und auch von den so unterschiedlichen Beziehungen zu ihnen. Die liebende starke Mutter auf der einen, der kühle und heimatferne Vater auf der anderen Seite. Evaristo schreibt sich durch ihre Partizipation als einzig Schwarzes Kind im Kirchentheater, durch die vielen Wohnungen, die sie haben eine Londoner Nomadin werden lassen und durch toxische wie heilende Beziehungen zu Frauen und Männern. Die Seiten ihres MANIFESTOS offenbaren einen Charakter, schillernd, rebellisch und kaum fassbar, doch trotzdem kohärent in spöttisch amüsiertem und selbstbelächelndem Ton, kritisch gegenüber der Ausgrenzung von People Of Colour in den verschiedensten Lebenssituationen und Institutionen und von den Eltern geprägt, gegen diese Ungerechtigkeiten anzugehen.
Bernardine Evaristo ist eine Autorin, deren Weg zum Erfolg lang war. Sie erzählt von Ablehnungen und dem Vorsatz, positiv zu bleiben und nicht aufzugeben, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen, der nicht nur verdient ist, sondern vor allem berechtigt. Sie erzählt von betrunkenen Nächten über schlechten Gedichten, über das fünffache Redigieren eigener Texte, von Phasen quälender Unproduktivität und dem dennoch immerwährenden Drang, sich der Welt in Lyrik mitzuteilen und die Welt in der Lyrik zu verarbeiten. Ein Kreislauf, der sie letztendlich zu der strahlenden Persönlichkeit gemacht hat, die sie nun ist, die sich für die Gleichberechtigung von People Of Colour einsetzt und in Gremien zu Literaturpreisen sitzt, die hochinteressante Romane geschrieben hat und versucht, die Weltsicht darin umzukehren.
Für mich, die ich auch gerne schreibe, ist Bernardine Evaristo in ihrem MANIFESTO ein Vorbild geworden – auf eine ganz unverfängliche und moderate Art, die nichts mit Arroganz zu tun hat. Sie hält nichts vom Konzept des Scheiterns und trotzdem sie eine vielarbeitende Person ist, steckt dieses Buch voller Leben. Sie verbindet Leidenschaft mit Arbeit, Geldverdienen mit Berufung und nutzt ihre Schwächen, um sie zu Stärken umzuwandeln. Darüber hinaus erzählt sie von den Prozessen ihrer Romanentstehungen und auch von den Geschichten selbst. Für mich hat dies dazu geführt, mir die Bücher direkt in der nächsten Buchhandlung zu bestellen, denn sie klingen aufregend, kreativ und innovativ und nach genau dem, was mein COVID-müder Geist gerade braucht. Doch meine Reaktion ist von Evaristo nicht provoziert worden, sie macht mit ihrem Buch keine Werbung für ihre früheren Werke, sondern umsorgt sie wie ein geliebtes Kind, dessen ganze Imperfektion man kennt, dessen nächtliches Geschrei man müde ist und das man doch für nichts auf der Welt wieder hergeben würde.
Ich weiß nicht, ob der Einstieg in Bernardine Evaristos Werk mit MANIFESTO der richtige ist (oder ob es überhaupt einen richtigen gibt), aber mir hat er die Tür zu ihrem literarischen Schaffen geöffnet und mit einem Blick auf meine neuesten Buchbeschaffungen, die wartend neben mir auf dem Sofa liegen, denke ich sagen zu können, dass diese Tür mit Sicherheit noch ein Weilchen offenstehen wird und Evaristo mich so schnell nicht wieder loswird.
Bernardine Evaristo: Manifesto – Warum ich niemals aufgebe.
Aus dem Englischen übersetzt von Tanja Handels.
Tropen, Januar 2022.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Luisa Aufderheide.