Alexis Ragougneau: Opus 77

Der Komponist Dimitri Schostakowitsch schrieb das Opus 77, als Stalin regierte. Es war sein erstes Violinkonzert und zugleich seine Antwort auf die allgegenwärtige Unterdrückung. „Nie hat Musik wohl mehr den Kampf des Lichts gegen die dunklen Mächte symbolisiert.“ (S. 147)

Ausgerechnet dieses Werk spielt die Pianistin Ariane Cleassens anlässlich der Beerdigung ihres Vaters, der in Genf ein berühmter Dirigent war. Sie widmet ihr Konzert auch ihrem abtrünnigen Bruder David, der mit dem gemeinsamen Vater sein ganzes Leben lang tiefgreifende Differenzen austrug. Denn nie hörten Ariane und David ein Lob. Also spielten sie gemeinsam um ihr Leben und gaben sich dabei gegenseitig Halt.

Und während Ariane zum Abschied für Vater und Bruder dieses Opus spielt, lässt sie ihre schwierige Kindheit mit dem häufig abwesenden Vater Revue passieren. Sie denkt unter anderem an ihren geliebten Bruder, der im Finale des Concours Reine Elisabeth auftrat. Die wichtigsten Kritiker verfolgten diesen Kraftakt, bei dem es für den Solisten nur wenige Pausen gibt.

Davids alter Lehrer meinte, um Opus 77 zu spielen, müsse man ganz unten gewesen und dort eine Weile geblieben sein. Für David war dies kein Problem, denn er war ganz unten angekommen. Nun ging es dank seines Talents und seiner exzellenten Technik aufwärts. Ariane erlebte ein tiefgreifendes Konzert, das sie niemals vergessen wird. Auch für den Dirigenten, Davids Vater, blieb es unvergesslich.

Alexis Ragougneau war Schauspieler, Regisseur und Dramatiker. Sein Gespür für Timing findet sich auch in seinem dramatischen Roman wieder, in dem eine Musikerfamilie unter der strengen Führung des Patriachen und Stardirigenten zerbricht. Die Chronistin ist die berühmte Pianistin Ariane, die über die Beziehung zwischen David und dem Vater nachdenkt. Aus vielen Rückblenden setzt sie das Familiendrama zusammen. Gleichzeitig beschreibt sie anschaulich, wie sie in der Branche der Klassik als Solistin überlebt: Vor jedem Konzert verläuft ihre Schminke unter Weinkrämpfen, und danach geleitet sie die Angst auf die Bühne bis zum Flügel. Auf diese Weise leidet sie vor jedem Konzert, mindestens hundert Mal im Jahr, ohne dass es je besser wird.

Das Thema der freien Entfaltung unter dem Druck von fremden Ansprüchen und Erwartungen zieht sich durch den ganzen wunderbaren Roman und den darin angeschnittenen Themen. Der Autor schreibt über die Macht der Musik und welchen Einfluss sie auf Ariane, David, ihre Eltern und Davids Lehrer ausübt. Sie alle haben für die Musik ihren Preis gezahlt. Der eine mehr, der andere weniger. Ariane erklärt hierzu: „Die Wahrheit ist, dass man nur verlieren kann. Beim Spiel mit dem Image und den Medien mitzumachen bedeutet, sich im Licht verzehren, sich zu verirren, das eigene Gesicht im Spiegel nicht mehr wiederzuerkennen.“ (S. 150)

Die Übersetzung dieses kurzweiligen, klug geschriebenen Romans verfasste Brigitte Große. Die wunderbare Geschichte ist in jeder Hinsicht ein Juwel im Literaturbetrieb.

Alexis Ragougneau: Opus 77.
Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große.
Unionsverlag, Februar 2022.
224 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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