Nachdem der Leser den Mord an Marietta Großkopf sozusagen als Augenzeuge miterlebt, lenkt die Autorin seinen Blick auf die Ermittlertruppe des Kommissariats in Varel. Alles andere als nüchtern gehen die Kriminaler mit dem Fall um. Nicht nur, weil Mord ohnehin aufwühlt, sondern auch wegen ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen, persönlichen Erwartungen und wegen ihrer unterschiedlichen Charaktere. Grässliche Tierquälerei auf Ponyhöfen lässt nicht nur wegen der räumlichen Nähe Verbindungen zwischen den Verbrechen vermuten und lassen den Leser nicht unberührt. Durch den klaren Schreibstil behält er in der komplexen Handlung stets den Überblick.
Ein Mord und die Vergewaltigung des Opfers wollen aufgeklärt werden in dem sonst eher beschaulichen Örtchen Dangast. Die Kollegen des Kommissariats im nahe gelegenen Varel treibt jedoch nicht nur die Suche nach Zeugen um, sondern auch ihre persönlichen Befindlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart sowie die Sorge um die Gesundheit ihrer Teamleiterin, der Hauptkommissarin Christin Kim. Verstümmelung und Tötung von Ponys auf einem Pferdehof steigern ihre Betroffenheit und stacheln sie bei ihren Ermittlungen an, denn ein Zusammenhang ist nicht auszuschließen, sodass bald beide SoKos zusammenarbeiten. Bringen sie ein zweiter Mord und ein Mordversuch durch neue Erkenntnisse in ihrer Arbeit voran?
Gitte Jurssen lässt den Leser teilhaben an den Stimmungen ihrer Figuren. Metaphern wie „ein Gesicht wie Regenwetter“ binden ihn ein in die Gefühlswelt derer, die ermitteln, spekulieren oder betroffen sind. Persönliche Probleme, Selbstzweifel, Karriereabsichten, Ressentiments und Sympathien spiegeln sich in ihren offengelegten Gedanken ebenso wieder wie in dem, was sie sagen und vor allem, wie. Beinahe idyllische Bilder versetzen den Leser in die norddeutsche Landschaft, die von Wasser, Deich und Wiesen bestimmt wird. In sprachlich sympathischem Kontrast dazu steht der Ruhrpottdialekt Renas, die wie andere Figuren die Mitglieder des Westerndorfs Cheyenne als „Spinner“ betrachtet. Wie die Einbeziehung von Hund Kobold in den Alltag der Polizisten zeigen Feinheiten das Einfühlungsvermögen der Autorin, die ihre Eindrücke dem Leser unaufdringlich zu eigen macht. Die dazu gehörenden Formulierungen offenbaren die Handschrift einer Frau, die ihren Lesern Gefühle aufzeigt, anstatt trotz ihrer klaren, geradlinigen Sprache die Sachverhalte und Abläufe kriminalistischer Spurensuche nüchtern vorzutragen. Wo sich Gefühle Bahn brechen, dürfen gern einmal ein paar Kraftausdrücke fallen. Auf weitere schriftstellerische Kunstgriffe hofft der Leser nicht vergebens, wie die zahlreichen Twists und die überraschende Widerlegung des nur scheinbaren Pleonasmus vom „Gesang von Melodie“ beweisen. Noch ein tiefer Griff in die schriftstellerische Trickkiste gelingt Jurssen dadurch, dass sie mit der Aufnahme von Motiv und Tatvorbereitung aus Tätersicht eine zusätzliche Handlungsebene öffnet, die den Roman aus dem Subgenre Ermittlerkrimi in die nächstweitere literarische Ebene hebt.
Wer sich für Regionalkrimis erwärmt, wird „Tatort Dangast – Ein Mord und der Gesang von Melodie“ lieben. Gitte Jurssens weitgehend schnörkellose Sprache hält den Leser unter Spannung, da sie vernunftbetonte Ermittlungsarbeit mit den Gefühlen der Beteiligten vereint. So behält der Leser mehrere Aspekte im Fokus und verwehrt sich jegliche Lesepause. Dass sie Dangast und seine Umgebung liebt, wie die Autorin in ihrem Kurzporträt im Nachspann verrät, vermittelt sie glaubhaft durch ihren detailverliebten Schreibstil. Nach etwa einem Drittel des Romans legt sich der Leser auf einen konkreten Verdacht fest, bis er bei der Aufklärung eines besseren belehrt wird. Und dass letztendlich die Ermittlungen ins Ausland führen, bereichert den Roman, ohne die relative „Idylle“ eines Regionalkrimis zu trüben.
Gitte Jurssen: Tatort Dangast – Ein Mord und der Gesang von Melodie.
telegonos publishing, Februar 2022.
161 Seiten, eBook, 2,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Michael Kothe.