Yanick Lahens: Sanfte Debakel

Der Richter Raymond Berthier ist tot. Brutal ermordet von mächtigen Männern, deren kriminellen Machenschaften er zu nahe gekommen ist. Seine Frau Thérèse und seine Tochter Brune trauern – jede auf ihre Weise. Während Thérèse sich an Rituale klammert, um nicht unterzugehen, verarbeitet Brune ihren Verlust mit Hilfe der Musik. Die junge Frau ist eine hervorragende Sängerin, die ihre ganzen Gefühle in ihre Lieder legt: „Im Gesang, in der Sprache erfinde ich, was fehlt, um im Grau der Tage auszuhalten.“ (Seite 146)

Pierre, Brunes Onkel, versucht zu ergründen, was mit seinem Schwager Raymond passiert ist. Über seine Beziehungen beschafft er sich die Ermittlungsakten. Doch die Polizei hält sich bei ihren Untersuchungen vornehm zurück. In Pierres Haus verkehren einige junge Leute, Freunde von Brune. Da ist Ézéchiel, arm, intellektuell, wütend und hungrig nach Nahrung und Gerechtigkeit. Nur seine Freundin Nerline kann ihn ab und zu besänftigen. Doch auch sie kämpft: für die Rechte der Frauen. Waner dagegen hält es mit der Gewaltlosigkeit und entkommt der Armut und der Bedrängnis in der Stadt, indem er einen Hof auf dem Land bewirtschaftet.

Bei einem von Brunes Auftritten lernen die Freunde Francis kennen, einen französischen Journalisten. Sie nehmen ihn in ihren Kreis auf und zeigen ihm ihre Stadt. Brune sagt zu ihm: „Weißt du, hier darfst du deine Träume nicht trödeln lassen. Hier ähneln sich Leben und Tod wie ein Ei dem anderen. Du lebst schnell. Du lässt die Worte, die Farben und die Noten umherwirbeln. Du betrachtest die Schwindel, die dich befallen.“ (Seite 46) Brune ist eigentlich mit Cyprien zusammen, einem jungen, ehrgeizigen Anwalt. Er träumt von einem Audi und davon, aufzusteigen zu einem Leben fern der Armut: „Die Stadt ist ein kochender Kessel, und man muss zum Schaum streben, wenn man nicht beim Bodensatz landen will.“ (Seite 9) Dafür ist er bereit, seine bisherigen Werte zu opfern und beide Augen zuzudrücken. Mehr und mehr entfernt er sich von Brune.

Auch Jouberts Ziel ist der gesellschaftliche Aufstieg. Doch sein Mittel ist die Gewalt. Er hat es fast schon geschafft. „Jouberts Glück liegt nie fern. Wie seine Knarre, wie jene andere Drohung, die er zwischen den Beinen in der Hose trägt. Jojo lebt an der Haut-, an der Seelenoberfläche.“ (Seite 53) Immer wieder kreuzt er die Wege von Brune und ihren Freunden.

Die Autorin Yanick Lahens gilt als eine der führenden Intellektuellen Haitis. In ihrem neuen Roman „Sanfte Debakel“ fächert sie ein faszinierendes Kaleidoskop der haitianischen Gesellschaft auf. Poetisch und sinnlich führt sie die Leserinnen und Leser durch die Tage und Nächte von Port-au-Prince, zeigt Armut und Reichtum, Glück und Hoffnungslosigkeit, Korruption und Rechtschaffenheit. Die Träume und Ängste der jungen Leute, aber auch Pierres Wünsche für den Rest seiner Lebenszeit und seine Zweifel kristallisieren sich nach und nach heraus. Die Autorin lässt uns tief in ihre Seelen blicken.

Die Geschichte entwickelt von Anfang an einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Auch wenn recht schnell deutlich wird, wohin die Handlung führt, bleibt sie spannend, weil die Figuren außergewöhnlich eindringlich charakterisiert werden. Am Ende ist niemand mehr, wie er war. Alle geraten in Bewegung. Manche auf etwas zu, manche von etwas weg.

Nur eine Sache hat mich anfangs verwirrt: Die wörtliche Rede wird nicht angezeigt, so dass ich manchmal nicht gleich einordnen konnte, wer spricht. Doch daran habe ich mich schnell gewöhnt und es hat den Lesefluss nicht mehr gestört.

„Sanfte Debakel“ ist ein beeindruckender Roman über das Leben in Haiti und das Leben an sich, fordernd und fließend, verstörend und realitätsnah, aber auch offen für die Träume, die in jedem von uns wach sind.

Klare Empfehlung für alle, die über den Tellerrand hinausschauen wollen.

Yanick Lahens: Sanfte Debakel.
litradukt Literatureditionen, März 2021.
160 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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