Uta Ruge ist in einem Dorf in Niedersachsen auf einem Bauernhof aufgewachsen. Sie erzählt in ihrem Buch die Geschichte ihrer Familie, ihres Dorfes, ja die Geschichte der Bauern in Deutschland allgemein. Dabei spannt sie einen großen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart.
Die unlösbar anmutende Aufgabe, europäische und deutsche Agrargeschichte über den Zeitraum von fast 2000 Jahren beschwingt lesbar darzustellen, gelingt Frau Ruge mit Bravour.
In Rückblenden, verpackt in überschaubare Kapitel, wechselt sie leichtfüßig zwischen gestern und heute, zwischen Politik und Sozialgeschichte, zwischen Heimatdorf und Weltgeschehen und stellt die Zusammenhänge her. Denn der Mikrokosmos Neubachenbruch ist mit dem Makrokosmos darum herum untrennbar verbunden. Neue Gedanken, politische Verfügungen und diverse Erfindungen erreichen das Dorf genauso wie die Kriege. Später verlassen es die Menschen, um in der Umgebung den Lebensunterhalt zu verdienen oder weil sie sich in Amerika eine bessere Existenz erhoffen. Andere ziehen zu, wollen eine neue Chance ergreifen.
Erinnerungen an das Leben am Land früher stehen den heutigen Gegebenheiten gegenüber. Frau Ruges Bruder Waldemar bewirtschaftet gemeinsam mit Frau und Sohn den Hof noch heute. Er führt einen Milchviehbetrieb mit 140 Kühen.
Von der vermeintlichen Idylle damals, betrachtet aus Kinderaugen, ist nicht mehr viel übrig. Den romantischen Blick auf das Bauerndasein demontiert die Autorin zur Gänze, wenn sie zum Beispiel von den Auflagen berichtet, die ein Bauer heute erfüllen muss. Sie macht das Spannungsfeld, in dem sich Landwirtschaft im 21. Jahrhundert befindet, drastisch deutlich.
Aber auch für vorhergehende Generationen gestaltete sich das Leben nicht einfach. Äcker und Wiesen waren einmal ein Moor. Auf dem wenig ertragreichen Boden war das Überleben oft ungewiss. Ungünstige Witterung vernichtete die Ernten. Ohne Zusammenhalt unter den Nachbarn drohte unter Umständen der Hunger. Im Dorf half jeder jedem. Nur gemeinsam schaffte man es, klimatischen Widrigkeiten zu trotzen.
Uta Ruge recherchierte in Kirchenbüchern und in Berichten der Landesherren, in Dokumenten aller Art, Schulchroniken und Verträgen.
Besonders interessant wird die Geschichte, wenn sie an das Leben einzelner Menschen geknüpft ist. Auch an ihr eigenes. Detailgetreu ersteht das Dorf mit seinen Bewohnern vor dem inneren Auge des Lesers. Einst und jetzt reichen sich die Hand, sind miteinander verknüpft.
2020 steht die Lebensmittelproduktion in Neubachenbruch nicht mehr an erster Stelle. Die wenigen verbliebenen Bauern von ehemals 19 Hofstellen verdienen ihr Geld mit erneuerbarer Energie, Tourismus und Direktvermarktung.
Sehr viele haben die Höfe aufgegeben, ihr Land verpachtet oder verkauft. Fremde Menschen sind ins Dorf gekommen, um hier zu leben. Manche sind geblieben, andere wieder fortgegangen. Auch Frau Ruge lebt nicht mehr in ihrem Heimatdorf. Die Landwirtschaft und alle damit verbundenen Themen beschäftigen sie aber bis heute.
Uta Ruge schreibt ein großes Buch, ein wichtiges Buch. Sie legt den ungeheuren Wandel „am Land“ und in den Dörfern offen. Einen Wandel, der erst langsam Beachtung findet. Er erstreckt sich über so viele Teilgebiete wie Architektur, handwerkliche Fertigkeiten, Wissen um gedeihliches Umgehen mit geografischen Gegebenheiten bis hin zu den Jahrhunderte alten, gewachsenen Formen des miteinander Lebens. Felder und Wiesen sind für urbane Menschen heute oft nur mehr grüne Erholungskulissen, die Bauern Umweltvergifter und Kuhquäler. Die Autorin hat viel dazu zu sagen. Ihr Ton bleibt aber immer wertschätzend, ihre Sprache verführt dazu, eine Seite nach der anderen gebannt umzublättern.
Historisch interessierte Leser werden in diesem Buch ebenso fündig werden wie jene, die gerne in Biografien schmökern. Wer mit der Landwirtschaft vertraut ist oder war, wird in diesem Buch etwas für sich finden und wer keine Ahnung davon hat, auch. Man lernt, den Weltzusammenhang, das Zusammenspiel so vieler Faktoren, zu begreifen.
Uta Ruge: Bauern, Land: Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang.
Verlag Antje Kunstmann, August 2020.
350 Seiten, Gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.