1985 in Berlin-Charlottenburg: Die Gymnasiastin Anja bekommt von ihrem Vertrauenslehrer einen Nebenjob vermittelt. Doch die alte Dame, deren „Gesellschafterin“ sie werden soll, weiß noch gar nichts von ihrem Glück. Ihr Sohn hat ohne ihr Wissen nach einer Betreuung für ein paar Nachmittage gesucht. Zuerst ist Fräulein Kuhn – die Mutter – nicht begeistert von seiner Eigenmächtigkeit, aber als sie im Gespräch feststellt, dass Anja in dieselbe Schule geht, die auch sie besucht hat und wie sie selbst zur Hälfte Jüdin ist, stellt sie die junge Frau kurzerhand ein.
Der Austausch und das Zusammensein tut den beiden Frauen gut. Sie fassen Vertrauen zueinander und Lili Kuhn erzählt Anja von ihrer Kindheit und Jugend in den 1920er Jahren. Wie sie früh ihre Mutter verlor, wie ihr Vater – ein erfolgreicher Teehändler – zu seiner Unterstützung seinen halb japanischen, halb chinesischen Freund Takeshi nach Deutschland holte, der für Lili lebenslang ein Vertrauter bleiben sollte, wie sie als Kind und junges Mädchen in einem Haushalt mit zwei Männern und einer resoluten Haushälterin aufwuchs, umgeben von Liebe, Verständnis und einer für die damalige Zeit fast verwegenen Mischung aus westlicher, asiatischer und jüdischer Kultur.
Lili entwickelt sich zu einer jungen Frau mit einem Gespür für Handwerk und Kunst. Günther von Pechmann, der Direktor der Königlichen Porzellan-Manufaktur, auf dessen Kinder sie ab und zu aufpasst, verhilft ihr zu einer Ausbildung als Porzellanmalerin. Alles scheint gut zu sein, doch das nationalsozialistische Gedankengut verbreitet sich zunehmend. Das bekommt auch Lili als Halbjüdin zu spüren. Und dann ist da noch die Schuld, die sie mit sich herumträgt und die sie zeitweise lähmt.
Zwei Frauen aus unterschiedlichen Generationen treffen aufeinander, finden Gemeinsamkeiten, lernen voneinander und unterstützen sich gegenseitig auf ihrem Weg durchs Leben: Dieses Motiv wurde auch schon in anderen Romanen verarbeitet, doch Tom Saller bettet es in „Ein neues Blau“ in einen außergewöhnlich interessanten Kontext ein. Er verwebt die Zeitgeschichte im Berlin der 1920er mit Lilis persönlicher Geschichte und schlägt einen Bogen zu Anja in die 80er. Dabei spürt man schon an der sprachlichen Gestaltung, in welcher Zeit man sich gerade befindet. Er formuliert originell, unverkrampft und hält die Spannung bis zum Ende hoch. Ich habe viel über Porzellan, Judentum und Tee gelernt, mein wahrer Held ist aber Takeshi, der mit bewundernswerter Gelassenheit durchs Leben geht und sich auch von widrigen Umständen nicht unterkriegen lässt.
Lilis Geschichte ist so berührend erzählt, dass ich manchmal tatsächlich ein Tränchen verdrücken musste – und das passiert mir nur sehr selten. Auch Anja geht mit einem ganzen Bündel von Problemen durch ihr junges Leben, die ich sehr gut nachfühlen kann.
Einzig, dass mir nicht immer klar war, was Lili nun wirklich Anja erzählt und was nur die Leserinnen und Leser erfahren, hat mich zeitweise etwas verwirrt. Ansonsten ist „Ein neues Blau“ ein sehr lesenswerter, bewegender Roman, den ich wärmstens empfehlen kann.
Tom Saller: Ein neues Blau.
List, August 2019.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.