Extrem spannend, extrem aufwühlend. Dark Town ist ein perfekter Pageturner, der beim Lesen an Herz und Nieren geht. Autor Tom Mullen verknüpft einen fiktiven Kriminalfall mit realer Zeitgeschichte – genauer: Der ersten afro-amerikanischen Polizeidivision, die 1948 in Atlanta eingesetzt wurde. Mindestens ebenso aufregend wie der Kriminalfall sind die harten Rahmenbedingungen mit denen diese schwarzen Polizisten tagtäglich konfrontiert wurden. Weiße Cops setzten ein Kopfgeld auf jeden toten „Nigger-Cop“ aus und wurden nicht müde, ihre Kollegen verbal zu demütigen und körperlich zu attackieren. Zu einer Zeit, in der Schwarze wegen Nichtigkeiten auf offener Straße aufgeknüpft werden durften, eigene Toiletten, Busplätze und Ghettos zugewiesen bekamen, war ihr Wort nichts wert. Auch die acht farbigen Polizisten haben in diesem Roman keinen wirklichen Handlungsspielraum. Es ist ihnen untersagt, das offizielle Polizeigebäude zu betreten, ihre Division ist einem feuchten Kellerloch untergebracht. Zwar dürfen sie Waffen tragen, aber keinen Streifenwagen fahren. Akteneinsicht, Verhöre, echte Polizeiarbeit – Fehlanzeige. Sobald es ans Eingemachte geht, müssen sie die weißen Kollegen rufen, die je nach Lust und Laune weiter verfahren können. Und das Wichtigste: Schwarzen Cops ist es verboten, Weiße zu verhaften.
Diese Krux bildet den Ausgangspunkt des Falles, in den die beiden Hauptdarsteller Lucius Boggs und Tommy Smith geraten. Bei einer nächtlichen Polizeikontrolle in Dark Town – dem von Schwarzen bewohnten Stadtbereich – halten sie ein Auto an, das eine Straßenlaterne angefahren hat. Im Wagen befindet sich eine junge schwarze Frau, die offensichtlich gerade verprügelt wurde sowie ein weißer, älterer Fahrer. Da Boggs und Smith diesen nicht verhaften dürfen, rufen sie weiße „Verstärkung“. Lionel Dunlow, ein langjähriger und sehr rassistisch eingestellter Cop, scheint den Mann zu kennen und lässt ihn davonkommen, wogegen die schwarzen Polizisten aber auch Dunlows junger Kollege Denny Rakestrow, genannt Rake, machtlos sind.
Wenig später wird die junge Frau tot auf einer Müllhalde aufgefunden. Lily Ellsworth stammte aus der Provinz, hatte in Atlanta als Dienstmädchen gearbeitet und sich in der Bürgerrechtsbewegung engagiert. Doch niemand scheint sich für den Fall zu interessieren. Der weiße Fahrer, Brian Underhill, entpuppt sich als Ex-Cop und wird aus der Akte herausgestrichen. Stattdessen versuchen die weißen Beamten durch brutale Verhörmethoden, Lilys Stiefvater den Mord anzuhängen.
Nach und nach tauchen immer mehr weiße Verdächtige in Lilys Dunstkreis auf. So hat sie für einen hochrangingen Kongressabgeordneten gearbeitet und wurde fristlos entlassen. Was ist dort vorgefallen? Boggs stellt auf eigene Faust Nachforschungen an und begibt sich damit in große Gefahr. Doch auch Rake, der die brutalen Methoden seines älteren Kollegen satthat, lässt der Fall nicht los. Er beschließt ebenfalls im Geheimen weiter zu ermitteln. Boggs‘ und Rakes Wege überkreuzen sich – es kommt zu einer Art Zusammenarbeit über alle Rassenunterschiede hinweg.
Dark Town führt mitten in die dunkelsten Kapitel der amerikanischen Geschichte hinein. Und dort sieht es wirklich finster aus – nicht nur in den schwarzen Ghettobezirken, sondern vor allem in den Köpfen all jener, die das System der Rassentrennung direkt oder indirekt unterstützen. Denn auch Jahrzehnte nach Abschaffung der Sklaverei hat sich die Situation für die schwarze Bevölkerung in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht wesentlich verbessert. Dies verdeutlicht Mullen – der im Norden Amerikas geboren wurde, aber mittlerweile mit seiner Familie in der Nähe von Atlanta lebt – anhand der Schicksale seiner zwei Hauptcharaktere. Tommy Smith ist der Draufgänger, wütend, aufbrausend, zu allem bereit. Er lebt in einem klassischen Armutsbezirk, nachdem sein eigener Vater von Weißen gelyncht wurde. Lucius Boggs ist hingegen in eine reiche schwarze Schicht hineingeboren. Sein Vater ist angesehener Reverend, der mit anderen Bürgerrechtlern wie Martin Luther King versucht, politischen Einfluss zu nehmen. Diese besondere schwarze Schicht, hat sich in einem eigenen Stadtbezirk niedergelassen, den sie kaum je verlässt. Hier sind sie sicher und angesehen, draußen in der Provinz nutzen ihnen Bildung und Vermögen gar nichts, da sie als Dunkelhäutige praktisch vogelfrei sind.
„Das Böse triumphiert allein dadurch, dass die Guten nicht tun.“ Dieser Ausspruch des -Philosophen Edmund Burke trifft insbesondere auf die Person des weißen Polizisten Rake zu, der im Laufe der Ermittlungen eine Transformation durchmacht. Er ist kein Rassist und erkennt die Ungerechtigkeit, ist zunächst jedoch zu feige, um etwas dagegen zu unternehmen. Denn er steht allein auf weiter Flur. Die Polizeikollegen sind allesamt gegen die farbigen Cops, sein Schwager Dale versucht einen Schwarzen zu vertreiben, der es gewagt hat, ein Haus in einer weißen Wohngegend zu bauen. Das rassistische Gedankengut durchzieht alle Schichten und Altersgruppen, so dass Rake sich einfach nur raushält. Obwohl er es besser weiß. Schließlich hat er als Soldat mit deutschen Wurzeln und Sprachkenntnissen nach dem zweiten Weltkrieg Anwohner durch Konzentrationslager gelotst. Er weiß, wozu solches Gedankengut führen kann. Doch es dauert, bis Rake Mut und Mittel aufbringt, wie er etwas zur Aufklärung des Falles beitragen kann, ohne seine eigene Familie zu gefährden.
Thomas Mullens Roman macht wütend und sprachlos. Damit trifft sie genau den Nerv der Zeit. Denn Rassismus ist und war noch nie von der Bildfläche verschwunden. Noch schockierender als die brutalen Übergriffe sind all die bösen kleinen Ausgrenzungen und Demütigungen des Alltags – und dass die überwiegende Mehrheit nichts dagegen unternimmt. Außer wegschauen. Das ist mindestens ebenso gefährlich. Denn: Das Böse triumphiert allein dadurch, dass die Guten nichts tun.
„Dark Town“ zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, sich diesen Punkt auch in heutigen Zeiten zu vergegenwärtigen. Der Roman funktioniert deshalb hervorragend auf verschiedenen Spannungsebenen, sowohl kriminalistisch, als auch gesellschaftspolitisch gesehen. Dazu passt das Setting. Die drückend-schwüle Sommer in Atlanta gleicht einem Hexenkessel, in dem die farbige Bevölkerung gefangen ist. Klein machen und ducken, alles klaglos ertragen, bis man selbst keine Luft mehr bekommt. Denn ein falscher Funke könnte sofort das Pulverfass zum Explodieren bringen. Mullens Prosa ist hitzig, mitreißend, bewegend, aufregend.
Fazit: ein extrem spannender, aufwühlender und wichtiger Roman! Ihn aus der Hand zu legen, ist nahezu unmöglich. Am Ende steht die Erkenntnis, dass Wahrheit und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind. Auf ein klassisches Happy End warten Leser hier vergebens. Wohl aber auf einen mindestens ebenso genialen zweiten Teil mit dem Titel „Weißes Feuer“, von dem eine Leseprobe am Ende des Buches angehängt ist.
Thomas Mullen: Dark Town.
DuMont Buchverlag, November 2019.
494 Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.