„Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens.“ Der erste Satz von Sylvia Wages Debutroman schockiert und fasziniert zugleich.
Der Augenblick, in dem die namenlose Erzählfigur sachlich und nüchtern den Tod ihres Vaters konstatiert, ist Ende und Anfang zugleich. Ersteres, weil für alle Beteiligten etwas abgeschlossen wird. Darin liegt zugleich der Anfang, weil der Umstand, dass eine Leiche zu entsorgen ist, die Familie zu gemeinsamen Anstrengungen und damit zu Kommunikation zwingt.
Sylvia Wage erzählt die Geschichte einer nach außen hin normalen Familie. Die perfiden Manipulationen, mit denen der Vater seine Frau und die drei Kinder seinem Willen unterordnet, bleiben hinter verschlossenen Türen. In Rückblenden werden unterschiedliche Anpassungsstrategien und die daraus resultierenden Verletzungen und Zerstörungen geschildert. Während die Mutter ihre Verzweiflung mit Alkohol ertränkt, wird die ältere Schwester zum verlängerten Arm des Vaters und die jüngere kämpft um Anerkennung. Seite um Seite nähert sich der Bericht jener Nacht Weihnachten 1993, in der die Erzählfigur, das mittlere Kind, den Vater in das selbst gegrabene Loch im Keller stieß und ihn damit vor der Außenwelt verschwinden ließ. Nun, reichlich zwanzig Jahre später, gilt es, die Leiche zu entsorgen, ohne dass Nachbarn oder die inzwischen demente Mutter davon etwas mitbekommen.
Der Autorin gelingt es, auf nur 175 Seiten ein komplexes Bild zu zeichnen. Im Plauderton schildert die Erzählfigur exemplarische Situationen. Der Ton ist freundlich distanziert. Dabei bleibt das „Ich“ vage, es gibt keinen Namen und ich kann nicht einmal sagen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Das ist sicher Absicht. Hinter Lakonie und schwarzem Humor versteckt sich ein Leben in Selbstauflösung. Ein Einfach-immer-weiter-machen. Für alle sichtbar die Pflege der Mutter. Im Verborgenen die Versorgung des Vaters. Unsichtbarkeit hat viele Gesichter. Zudem untergräbt das Erzähler-Ich immer wieder die eigene Wahrhaftigkeit, stellt seine Glaubwürdigkeit in Frage, indem verschiedene Versionen des Geschehens angeboten werden.
Überhaupt bleiben viele Fragen offen, Mitwisserschaft wird angedeutet, ebenso wie die besonders schlimmen Erlebnisse. Ich bekomme eine ungefähre Ahnung von Herabwürdigung, Persönlichkeitszerstörung und auch Kindesmissbrauch. Im Umgang mit dem Vater und später mit seinem Verschwinden offenbart sich der Zustand der Familie, wo sich verstecken, lügen und vermeiden zur Überlebensstrategie wurden. Der Fokus liegt dabei immer auf den Opfern, die Befindlichkeiten des Vaters werden nicht thematisiert.
Sylvia Wages Roman hat mich tief beeindruckt. Er ist meisterhaft komponiert, die Kapitel greifen ineinander über und liefern passgenau die nötigen Informationen. Der lockere Plauderton verpackt die schwere Kost in angenehme Unterhaltung, ohne jemals platt zu sein. Die Wucht der Ereignisse entfaltet sich im Nachhinein. Fazit: Unbedingt empfehlenswert.
Sylvia Wage: Grund.
Eichborn, August 2021.
176 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.