Vischnanca heißt ein kleines Dorf in den Graubündner Alpen. Es klebt an der Flanke des Berges Piz Brunclia und rutscht daran 1,20 Meter pro Jahr ab. Die Bäuerin Ria betrachtet den Berg als boshaftes Monstrum, das versucht, Vischnanca und seine Bewohner loszuwerden, indem es mit Steinen und Geröll nach ihnen wirft. Sie will gegen die Bedrohung ankämpfen.
Ein zweiter Erzählstrang begleitet die Familie Blom aus Duisburg. Die vier Bloms wandern arglos in das malerische Bergdorf aus und lassen sich in einem der alten Häuser nieder. Niemand hat den Bloms von den Gegebenheiten erzählt. Sie sind geschockt und wissen nicht recht, wie man mit der Situation umgehen soll. Trotzdem versuchen sie, Wurzeln zu schlagen. Gemeinsam mit ihnen lernt man die Leute aus Vischnanca kennen und erfährt von den sozialen und verwandtschaftlichen Verflechtungen in der kleinen Gemeinde. Bald tun sich sowohl in den Hauswänden als auch im dörflichen Zusammenhalt Risse auf. Die Evakuierung hängt wie ein Damoklesschwert über den Bewohnern. Gehen oder bleiben, das ist die große Frage. Geld vom Staat gibt es aber nur, wenn ausnahmslos alle wegwollen. Jeder muss der Absiedelung zustimmen… Feindschaften entfalten sich knisternd, eine große Liebe bahnt sich an, es passiert ein Unglück und ein anderes geht gerade noch gut aus. Rias Familie zählt zu den ältesten im Dorf. Sie wehrt sich sehr gegen den Gedanken, ihren Hof, die Tiere, Haus und Grund ihrer Vorfahren verlassen zu müssen. Ria will ihre Heimat nicht aufgeben. Da gerät plötzlich auch ihre Ehe ins Rutschen…
Dieses Buch entwickelt einen leisen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Gebannt verfolgt man, wie die Dinge in Vischnanca sich entwickeln. Petra Hucke schafft es, ein ganzes Dorf zu zeichnen, ohne dass der Leser die vielen Personen durcheinanderbringt. „Vom Gehen und Bleiben“ geht metaphorisch Fragen nach, die uns heute umtreiben. Was machen wir, wenn uns durch den Klimawandel der Boden unter unseren Füßen entgleitet? Wohin flieht man, wenn man alles Gewohnte, aus welchem Grund auch immer, verlassen muss? Man kann das Buch als Gleichnis für den momentanen Zustand der Gesellschaft lesen oder einfach als gut erzählte Geschichte. Empfehlenswert ist die Lektüre auf jeden Fall.
Petra Hucke: Vom Gehen und Bleiben.
Krüger, März 2022.
432 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.