Hamburg, 1920. Die Nachwehen des Ersten Weltkriegs sind noch überall zu spüren. Auch in der Praxis der Psychoanalytikerin Vera Albers, die überwiegend durch Kriegserfahrungen traumatisierte Menschen behandelt. Als Hermann Braun, einer ihrer Patienten, ermordet wird, beginnen Kommissar Karl Bender und Kriminalanwärter Abel Bernstein auch in ihrer Praxis zu ermitteln. Schnell weitet sich der Fall aus: Es gibt weitere Opfer, die alle Soldaten im selben Regiment waren. Unversehens ist Vera selbst Teil der Ermittlungen, als Willy Schuster verschwindet – auch er Mitglied dieses Regiments und Ehemann Johanna Schusters, einer ihrer Patientinnen. Wird auch er zum Opfer eines unbekannten Rächers? Oder ist er selbst der Täter? Was ist das Motiv? Die ermittelnden Kommissare hoffen, mit Veras Hilfe die mysteriösen Morde aufklären zu können.
Es entspinnt sich eine flüssig erzählte, teilweise spannende Kriminalgeschichte, angereichert mit ein paar zeitgeschichtlichen Bezügen und hamburgischem Lokalkolorit. Im Zentrum des Romans stehen die überzeugend porträtierten Figuren, insbesondere der Frauen. Neben Vera Albers, die in den 1920er-Jahren als Psychoanalytikerin eine absolute Ausnahme im männerdominierten Medizinbetrieb war, spielt Johanna Schuster, die Frau eines entsetzlich entstellten Kriegsopfers, eine zentrale und vor allem zwielichtige Rolle. Und dann ist da noch Alma Lehmann, eine junge Volontärin auf der Jagd nach ihrer ersten großen Story, vorlaut, aufdringlich, ehrgeizig, und wie Vera darauf bedacht, sich von Männern nicht unterbuttern zu lassen.
Melanie Metzenthin arbeitet hauptberuflich als Fachärztin für Psychiatrie, und so ist es nicht überraschend, dass die Ermittlungen ihrer Hauptfiguren nicht nur von alltäglicher Polizeiarbeit, sondern von ausführlichen psychologischen Analysen geprägt sind. So nebenbei erfahren wir etwas über die »therapeutische Abstinenz« und Veras damit verbundenen Gewissenskonflikt, da sie, immer tiefer in den Fall verstrickt, dieses Grundprinzip therapeutischer Arbeit verletzen muss.
Vor allem für Freunde psychologischer Studien ist »Die Psychoanalytikerin« ein lesenswertes, spannendes Buch. Wer jedoch ausgeklügelte, ungewöhnliche Plots liebt und dennoch auf innere Logik und schlüssige Auflösungen Wert legt, wird – das ist das einzige, aber leider gravierende Manko – enttäuscht werden. Vera Albers bescheinigt sich selbst, ihre Theorie (die sich schnell als richtig erweist) beeindruckend belegt zu haben, und in der Tat sind die Kommissare Bender und Bernstein erstaunlich schnell überzeugt. Nun, ich denke, die meisten Leser hätten ihnen problemlos gegenargumentativ unter die Arme greifen können. Autorin und Lektor/in mögen mir verzeihen: Mich hat das nicht überzeugt. Ich finde die Auflösung sogar geradezu hanebüchen. Schade, die erhoffte Wendung zu einer nachvollziehbaren Erklärung blieb aus.
Melanie Metzenthin: Die Psychoanalytikerin.
Heyne, Oktober, 2025.
384 Seiten, Taschenbuch, 17,00 €.
Diese Rezension wurde verfasst von Wolfgang Mebs.
