2381: Das Leben auf der Erdoberfläche ist schon vor Jahren unmöglich geworden. Seitdem verbringt der kleine Rest der Menschheit seine Zeit in drei riesigen Bunkern unter der Erde, eingesperrt in lebenserhaltenden Kapseln und 24 Stunden am Tag in eine virtuelle Welt eingeloggt, um dem Schrecken der dicken Betonwände und der Platzangst zu entkommen. Ein ins Hirn implantierter Chip kümmert sich um den täglichen Bedarf an Nährstoffen und setzt bei erhöhtem Stress Beruhigungsmittel frei. Gleichzeitig fungiert er auch als persönlicher Assistent, der mit einem spricht und durch das digitale Leben navigiert.
In dieser Welt gehört Kaja Andersson zu der Elite: Ihre Eltern betreiben die erfolgreichste Firma für Holovits, die digitalen Welten. Sie sind die besten Programmierer ihrer Zeit, was bedeutet, dass Kaja in ihrem digitalen Leben alles haben kann, was sie sich erträumt. Aufgewachsen in einer toskanischen Villa hat sie mehr als die meisten anderen Bürger.
Aber der perfekte Schein trügt. Innerlich hat sie mit Panikattacken zu kämpfen und mit dem Wissen, nicht gut genug zu sein. Denn anders als ihre Eltern will sie nicht wissen, wie das digitale Leben entsteht. Sie will vergessen, dass es sich um eine Illusion handelt.
Das erweist sich jedoch als schwierig, denn immer wieder kommt es zu Stromausfällen, die sie wie alle anderen Bewohner aus ihrer Traumwelt reißen und ihr die harte Realität der lebenserhaltenden Maschinen und winzigen Kapseln vor Augen führen. Schuld haben laut der Regierung die sogenannten Darksurfer, eine Terrororganisation, die das Leben der Menschen zerstören will. Als Kaja über ihren Kommilitonen Liam auf eben diese Darksurfer stößt, wird ihr gesamtes Weltbild mit einem Mal vernichtet: Die Gruppe hat kein Interesse daran, das Leben der Menschen zu zerstören. Sie wollen es retten. Und dafür haben sie den Plan geschmiedet, zurück an die Oberfläche zu kehren, was die Regierung verbietet, die allen befielt, ihre Kapseln unter keinen Umständen zu verlassen. Und auch für die Stromausfälle ist niemand anders verantwortlich als die Präsidentin und ihr Rat, zu dem auch Kajas Vater gehört. Wem kann sie jetzt noch vertrauen?
Wahnsinn! Ich habe vor dem Lesen mit einer modernen Matrix-Adaption gerechnet: Unterhaltsam vielleicht, aber keine neue Idee. Ich lag dermaßen falsch! Dieses Buch ist so spannend, ich habe es an einem Tag durchgelesen, ohne wirklich die Zeit dafür gehabt zu haben. Es ist gut und unterhaltsam geschrieben, die geschaffene Dystopie ist beängstigend, fesselnd und faszinierend. Es ist die Liebesgeschichte zweier junger Menschen, die noch nie jemanden außer der eigenen Familie in echt gesehen haben. Es ist die Geschichte von zwei Freundinnen, die jede für sich Idealistinnen sind, deren Ideale aber nicht parallel existieren können. Der Leser wird in eine Welt gesogen, wo Macht mehr bedeutet als Menschenleben und wo Lügen und Propaganda dafür sorgen, dass niemand seine enge Zelle verlässt.
Spannend bis zum letzten Atemzug. Ich kann es kaum erwarten, bis der zweite Band erscheint, was (das ist der einzige Haken) leider erst im Oktober 2022 geplant ist.
Marion Herzog: Algorytmica.
Heyne, Dezember 2021.
432 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Isabella M. Banger.
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