Das Thema „Loyalität“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten der Autorin Kamila Shamsie. Mal ist es der blinde Gehorsam, die prägende Familie, eine Religion oder auch die gewalttätige Geschichte eines Volkes. Wird ein Mensch automatisch zu einem Verräter, wenn blinder oder geforderter Gehorsam eines Tages hinterfragt wird?
Im Jahr 515 vor Christus war Loyalität für den berühmten Helden Skylax viele Jahre keine Frage, bis neue Erfahrungen seine Meinung änderten. Labraunda (Türkei), ein Fluchtort der karischen Krieger und ihm, ist 1914 der Schauplatz für archäologische Ausgrabungen, an denen auch die junge Engländerin Vivian teilnehmen darf. Der Freund der Familie, ein Türke, leitet die Arbeiten. Sie verliebt sich in ihn und gerät damit in einen Loyalitätskonflikt zu ihrem Vater. Nach Kriegsbeginn gilt ihre Loyalität dem Wohl des Landes, und sie hilft aufopfernd bei der Pflege von Kriegsverletzten. Doch nachdem sie sich von einem Zusammenbruch erholt hat, ändert sie ihre Loyalität. Es zieht sie zu einem Ort, wo sie ihren Geliebten wiederzusehen erhofft. In Kaspatyros (Peschawar), schreibt er in einem Brief, könnte Dareios Geschenk an Skylax vergraben sein.
Das freie Leben der alleinstehenden Vivian stößt nicht nur die in Kaspatyros wohnenden Engländer vor den Kopf. Als sie den Jungen Najeeb Gul unterrichtet und sich mit ihm anfreundet, bringt sie auch seine Familie gegen sich auf. Denn Anstand und Sitte verlangen eine strikte Geschlechtertrennung.
Auch Qayyum Gul, Najeebs Bruder, gerade kriegsversehrt heimgekehrt, muss seine Loyalität gegenüber England mit den Traditionen in der Heimat in Einklang bringen. Die Verhältnisse zwingen ihn, seine Loyalität wie einst Skylax neu zu definieren.
Fünfzehn Jahre später lädt Najeeb Vivian ein, mit ihm nach Skylax silbernen Reif zu suchen. Ihre damals favorisierte Ausgrabungsstätte sei wieder freigegeben. Als sie Kapsatyros mit dem Zug erreichen will, versammeln sich in der Straße der Geschichtenerzähler politische Demonstranten. Die Einschreitung der Soldaten mit Hilfe von Panzern eskaliert.
Kamila Shamsie, geboren 1973 in Karatschi, bekam für ihre Romane Preise und Auszeichnungen. In ihrem aktuellen Roman erzählt sie in wechselnden Episoden aus Vivians Leben und zweier Brüder aus Peschawar, die sich jeweils gegen die Konventionen der Familie und der Tradition auflehnen. Der historische Boden bildet die Kulisse und ist zugleich auch der Motor für zahlreiche Konflikte, welche die grundverschiedenen Charaktere mal verbinden und mal trennen.
Besonders einfühlsam und spannend beschreibt sie Qayyums Suche nach dem verschollenen Bruder, während die Spuren der Gewaltexzesse mit Wasserschläuchen beseitigt werden. Im bunten, geschichtsträchtigen Roman geht einiges zu Bruch. Nicht nur die Frage, wo Loyalität beginnt und endet.
Kamila Shamsie: Die Straße der Geschichtenerzähler.
Berlin Verlag, März 2015.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.