Emilienne nennt sich „Emily“, seit sie in London lebt. Nicht nur, weil die Engländer das besser aussprechen können. Die junge Frau aus Ruanda verbirgt hinter diesem fremden Namen auch ein Stück von sich selbst. Sie liebt die Anonymität in England, „die Möglichkeit, nicht bemerkt, nicht identifiziert, nicht kategorisiert zu werden“. Als Tutsi musste sie in ihrer Heimat Grausames sehen und erleiden. Meist versteckt sie ihre traumatischen Erlebnisse in ihrem Inneren, oft zieht sie sich von der Welt zurück oder wandert durch die Gegend, um sich abzulenken, aber manchmal brechen die Erinnerungen mit Macht hervor und stürzen sie in Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Nach drei Jahren wollen ihre Tante und ihr Onkel, bei denen sie in den ersten Jahren in London wohnt, ihr Schweigen und ihre Ausbrüche nicht mehr mittragen. Emily zieht aus und versucht, sich mit Putzstellen über Wasser zu halten. Dann fällt ihr ein Flyer für eine Pflegeausbildung in die Hände. Ob das etwas für sie wäre?
Vera plagen Schuldgefühle, die sie mit niemandem teilen kann. Zu schwer wiegt, was sie getan hat. Als sie Luke kennenlernt, hat sie das Gefühl, dass er und sein Gott sie retten können. Der gläubige Christ gibt ihr Halt, sie hofft, dass er ihr helfen kann, ein besserer Mensch zu werden. Doch ihre Zweifel wollen nicht verschwinden. Was wird geschehen, wenn sie ihm die Wahrheit über sich erzählt? Und dann ist da noch Charlie, mit dem sie früher um die Häuser gezogen ist und dessen Charme sie nur schwer widerstehen kann.
Lukes Mutter Lynn ist noch keine sechzig und todkrank. Sie hadert mit ihrem Schicksal und lässt ihren Ärger auch an Vera aus, die ein Sabbatical von ihrem PR-Job nehmen will, um sie zu pflegen. Lynn hat für Mann und Familie eine berufliche Karriere aufgegeben und fragt sich noch heute, wie das passieren konnte. Die Entscheidung war freiwillig und auch wieder nicht. Sie war die perfekte Ehefrau und Mutter, die immer alles im Griff hatte, auch sich selbst. Nach dem frühen Tod ihres Mannes hat sie sich nur einen Freiraum genehmigt, allerdings ohne jemandem einen Einblick zu gewähren: die Malerei.
Die britische Autorin Jemma Wayne verknüpft in ihrem Roman „Der silberne Elefant“ die Geschichten dieser drei so unterschiedlichen Frauen. Jede trägt schwer an ihren Geheimnissen und jede sucht einen anderen Weg, damit zurechtzukommen. Erfolgreich ist keine damit. Jemma Wayne schildert die inneren und äußeren Kämpfe ihrer Protagonistinnen in einer klaren Sprache, die mitten ins Herz trifft. Sie verschont die Leserinnen und Leser auch nicht vor der Gewalt, die Emily in Ruanda erleben musste.
Der Roman – aus dem Englischen übersetzt von Ursula C. Sturm – erzählt von Solidarität und davon, wie man sich gegenseitig die Augen öffnen kann, von zarten Annäherungen und barschen Zurückweisungen, von Versöhnung und Tod, von Verletzung und Heilung.
Am Ende bleibt die Zuversicht und die Erkenntnis, dass Menschlichkeit möglich ist. „Der silberne Elefant“ ist ein bewegender Roman, der viele Leserinnen und Leser verdient hat, aktuell, zeitlos und fantastisch geschrieben. Ich kann ihn nur wärmstens empfehlen.
Jemma Wayne: Der silberne Elefant.
Eisele Verlag, März 2021.
432 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.