Der Prozess des Erinnerns ist eine Gratwanderung zwischen der „Wahrheit“ und dem Bild, das man erschaffen hat. Wer erinnert sich schon genau an seinen gestrigen Tag, an die Ereignisse der näheren Umgebung, innenpolitisch und außenpolitisch? Und welches Ereignis wird nachhaltig das eigene Leben beeinflussen? Ein genauer Rückblick könnte bei der Beantwortung dieser Fragen helfen.
Der Autor und Journalist Henning Sußebach versucht einen Rückblick, der weit über 100 Jahre in die Vergangenheit reicht, um seiner Urgroßmutter Anna einen festen Platz in den familiären Erinnerungen zu geben. Er versprach seiner betagten Mutter, Annas jüngster Enkelin, sie werde das Buch über ihre Großmutter rechtzeitig in den Händen halten, denn Anna „… kam auf die Welt und verließ sie wieder. Ihr Nachlass ist winzig.“ (S. 9) Biografien über Frauen wurden – wenn überhaupt – über das Kirchenregister festgehalten. Geboren, getauft, verheiratet, Taufen der Kinder … gestorben. Das arbeitsreiche Leben schenkte wenig Freiräume, um ein Tagebuch zu führen. Die täglichen Aufgaben nahmen so viel Zeit in Anspruch, dass eine schriftlich fixierte Reflexion ein kühner Gedanke blieb. Anna führte – wie damals üblich – ein Poesiealbum, das unterschiedliche Personen mit Reimen und Botschaften füllten.
Henning Sußebach beginnt seine Recherche mit den Eckdaten: Geburt, Tod des Vaters, Ausbildung zur Lehrerin in den Niederlanden. Vermutlich hatte sie ihre spätere Berufstätigkeit einem aufgeschlossenen Lehrer zu verdanken. Vielleicht hatte er ihren Blick und den der Mutter geschärft, sodass sie sich für ihre Zukunft mehr erhoffte als eine typische Frauenarbeit auf dem Bauernhof, in der Wirtschaft oder in fremden Haushalten. Nach dem Tod des Vaters gelang Anna das Kunststück, mit der Tradition zu brechen.
Im März 1887, einen Monat vor ihrer Volljährigkeit, hatte die Lehrerin Anna Kalthoff ihren ersten Arbeitstag im sauerländischen Cobbenrode, einem wirtschaftlich aufstrebenden Ort mit 507 Einwohnern. Sie war eine „freie“, unabhängige Frau und später fand ihre gesellschaftliche und berufliche Karriere im Haus ihres Mannes, Clemens Vogelheim, statt.
Bei seiner Recherche stieß Henning Sußebach auf wenige Bilder und Aufzeichnungen. Überlieferungen und Erinnerungsfetzen gaben ihm Anhaltspunkte, die dürftigen Details aus Annas Werdegang mit weiteren Fakten anzureichern. Wo andere Frauen in ihrer Zeit stumm und dienend im Hintergrund blieben oder einen Mann schmückend begleiteten, fiel Anna auf. Sie stand für sich, unabhängig, einsam und stets auf gesellschaftliche Konventionen achtend. Aus den Analen des Dorfes geht hervor, der reiche, junge, allseits begehrte Clemens Vogelheim blieb so lange unverheiratet, bis das Veto des Vaters mit diesem beerdigt wurde. Zwölf Jahre warteten Clemens und Anna auf ihre eheliche Zweisamkeit. Kurz nach der Hochzeit steuerte das geordnete Eheleben auf die nächsten Hürden zu.
Um die Umstände der damaligen Zeit besser zu begreifen, war der Journalist in Henning Sußebach gefragt. Parallel zu Annas 65-jährigen Leben trug er akribisch die Daten und Ereignisse von gesellschaftlichen und politischen Umbrüche zusammen. Aus den unzähligen Daten entstand ein Gewebe der deutschen Geschichte, in dem Annas Biografie wie ein leuchtender Faden sichtbar wird.
Einleitend schreibt der Autor über die ausgetretenen Pfade, aus denen zeitweise Menschen ausbrechen, um neue Wege zu treten. Anna gehörte dazu. Sie trat heraus und wurde eine Persönlichkeit.
Danke für den kurzweiligen Lesegenuss.
Henning Sußebach: Anna oder: Was von einem Leben bleibt: Die Geschichte meiner Urgroßmutter
C.H. Beck Verlag, Juli 2025
205 Seiten, Hardcover mit 17 Abbildungen, 23,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.