Der Man Booker Prize Träger von 1996, Graham Swift, bei dtv in der Kurzform. 25 Erzählungen als Miniaturen des Augenblickes: feine, kleine Momente aus dem Leben, Schlüsselerlebnisse und -entscheidungen mit (Nach-) Wirkungen.
Da wird dem Lesenden der nächste Besuch beim Friseur in einem anderen Licht erscheinen, wenn er bei Swift erfährt, was dieser beim Haareschneiden über den Kunden und sich selbst denkt. Während das frisch verheiratete junge Paar (Lisa und Nick) ihr Testament macht „als wäre das der nächste Schritt im Leben“, und er ihr einen Liebesbrief schreibt, den Lisa nie erhält, erzählt der in Battersea geborene Kardiologe Dr. Shah mit der Geschichte seines indischen Vaters etwas über Heimat, über Liebe und die koloniale Geschichte Englands. In „Yorkshire“ erhebt die 48jährige Adele spät einen schweren Vorwurf gegen ihren Vater Larry und macht sich damit ihre Mutter Daisy zur „Todfeindin“. Ein kleiner Nachbarsjunge verpfeift den Sonderling Mr. Wilkinson an die Polizei und wird in der Geschichte mit dem Titel „Ajax“ später Professor für Altgriechisch. Der Schuljunge Daniel, der vor dem Messer in der Küchenschublade an der Kreuzung zwischen Gut und Böse steht. Ein Vater im Supermarkt, den eine Packung Nudeln die Fassung verlieren lässt. In der Titelgeschichte „England“ trifft der Küstenwächter Kenneth Black frühmorgens auf den reisenden Komiker Johnny Dewhurst und entdeckt in ihm das Gegenteil seiner selbst und sein nicht gelebtes Leben.
Die 25 Geschichten erzählen von Menschen und von Beziehungen in Veränderung: Beziehungen zwischen Kindern und Eltern, zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Eheleuten, zwischen Freunden und Fremden. Sie handeln von Liebe, Hass, (Selbst-) Betrug, Krankheit, Tod. Und vom Krieg, darunter zwei Exkursionen in das historische England: „Hämatologie“ (in Briefform verfasst) und „Articles of War“ (Regeln für Soldaten aus dem 17. Jahrhundert), die in der Sprache aus dem Rahmen, jedoch nicht aus dem Inhalt des Buches fallen.
Graham Swifts Stories spielen in England, nur so, dass man begeistert ruft: „wir möchten auch England sein“, damit Swift über uns schreibt.
Und wie Graham Swift sie erzählt (übersetzt ins Deutsche von Susanne Höbel). Wie er es schafft auf zehn, zwölf Seiten eine Welt und eine Atmosphäre entstehen zu lassen, in die man als Leser so tief eintaucht, wie sonst nur in dicke Romane. Dafür gibt es nur einen Ausdruck: meisterlich. Und für die Menschen nur einen Rat: lesen, lesen, lesen.
Es bleibt allein die Frage, warum dtv sich für die Umschlaggestaltung in Form eines sepiafarbenen Fotos mit einer Dame im mattroten Kostüm auf einem Bahnsteig entschieden hat? Trägt doch die Originalausgabe die typischen englischen Kreidefelsen mit Leuchtturm im Meer und wird damit dem Titel und dem Inhalt des Buches auch von außen gerechter.
Graham Swift: England und andere Stories.
dtv, April 2016.
304 Seiten, Gebundene Ausgabe, 21,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.