Auf nur 180 Seiten entwirft der japanische Autor Nakamura eine faszinierende Obsession und wagt sich tief in die Abgründe der menschlichen Seele hinein. Der Student Nishikawa führt ein unauffälliges, nahezu langweiliges Leben. Seine Wohnung ist gerade einmal sechs Tatamimatten groß, er ist eher introvertiert, vertreibt sich die Zeit mit seinem Freund Keisuke und ein paar wenigen, kurzlebigen Liebschaften. Doch etwas treibt Nishikawa um. So läuft er öfters bei Wind und Wetter planlos durch die Nacht, bis seine Füße schmerzen. Warum, vermag er selbst nicht zu sagen. Auf einem dieser nächtlichen Streifzüge macht er völlig durchnässt Halt unter eine Brücke. Dort findet er die Leiche eines Mannes, der augenscheinlich Selbstmord begangen hat. Neben ihm befindet sich der dazugehörige Revolver, ein Colt. Bei seinem Anblick ist es um Nishikawa geschehen: Es ist sozusagen „Liebe auf den ersten Blick“. Der Student nimmt die Waffe an sich. Danach ist nichts mehr so, wie es war…
Nishikawa wird selbstbewusster, offener, lässt sich auf Affären und Abenteuer ein. Der Revolver scheint ihm eine neue Art von Rückhalt zu verleihen. Er kann sich nicht am silbrigen Glanz der Waffe sattsehen, erfreut sich an der „radikalen Einfachheit und Eindeutigkeit des Gegenstandes“. Stundenlang poliert Nishikawa den Colt, trägt ihn bald auch außerhalb seiner Wohnung mit sich herum, wo er ihn ständig in seiner Jackentasche befühlt. Wohl wissend, dass er ihn jederzeit ziehen und überraschende Situationen provozieren könnte. Doch bald reicht Nishikawa das bloße Sehen und Fühlen nicht mehr aus. Er will die Waffe ihrem eigentlichen Ziel zuführen… mit ihr zu schießen. Und letztlich zu töten. Immer tiefer verliert sich Nishikawa in seiner Obsession. Er beginnt die Waffe zu glorifizieren und zu personifizieren. Er verliert sich in Tagträumen, wo und wie er die Waffe zum ersten Mal in Gebrauch nehmen könnte. Als sich eines Abends eine unerwartete Gelegenheit auftut, gibt es danach kein Halten mehr. Über alledem steht die Frage: „Sehen Menschen Schönheit in Dingen, die zum Tode führen?“
Schön, schlicht, schnell und zielsicher – Nakamuras Sprache gleicht selbst einem literarischen Schuss. In wenigen Worten ruft er starke Bilder und unangenehme Assoziationen hervor. Atemlos folgen wir ihm in die verworrene Psyche des jungen Protagonisten, die der Autor Schicht um Schicht aufdeckt. Wir Leser erfahren von Nishikawas Kindheit. Wie er in einem Kinderheim gelandet und später von liebevollen Eltern adoptiert wurde. Trotz dieser negativen Vorzeichen war er nie ein Problemkind gewesen, stets höflich und fleißig. Auch akzeptierte er seine neuen Eltern sofort. Nishikawa lebte stets ein angepasstes Leben, um so durchzukommen. Zu angepasst möglicherweise. Denn scheinbar hat der junge Student nicht nur den Zugang zu seinen eigenen Gefühlen, sondern auch den zu seinen Mitmenschen verloren. So fühlt er sich ausgerechnet zu einem leblosen Objekt hingezogen. Dies fördert wiederum eine dunkle Seite in ihm zutage, die er sich stets vorenthalten hatte.
Die faszinierende Geschichte „Der Revolver“ wurde bereits 2002 von dem mittlerweile bekannten japanischen Autor geschrieben. Nun ist sie erstmals in deutscher Übersetzung erhältlich. Story, Setting und Sprache bilden eine wundervolle Metamorphose miteinander. Nur im Land der aufgehenden Sonne scheint eine solch düstere Geschichte denkbar. Wo Samurai-Tradition, Fleiß und Ehre scheinbar mühelos mit Manga-Scheinwelten und Karaoke-Kult ineinander übergehen.
Fazit: Ein literarischer Schuss ins Schwarze. Abgründig, vielschichtig, von sprachlicher klarer Schönheit. Mit einem wunderbar passenden Cover von Andy Warhol.
Fuminori Nakamura: Der Revolver.
Diogenes, September 2019.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.