Eine irrsinnige Geschichte, die wahr ist
Zum Inhalt
Dirk Stermanns Buch ist aus der Sicht des jungen Cherubino geschrieben. Er wird im Alter von 15 Jahren von seinem Heimatdorf in den Abruzzen zur Ausbildung als Krankenpfleger nach Pergine eingeladen. Eine Gelegenheit, die er gerne annimmt. In der dortigen psychiatrischen Anstalt lernt er nicht nur einen Beruf, sondern auch Lesen und Schreiben, verliebt sich in die junge Nonne Letizia und schließt Bekanntschaften mit futuristischen Künstlern. Einer von diesen ist es auch, der dem Leiter der Anstalt von einem neuen Projekt erzählt. Die italienische Stadt Fiume (heute Rijeka) wurde im Zweiten Weltkrieg durch die Italiener von den Kroaten zurückerobert. Dort möchte ein gewisser Gabriele D’Annunzio einen neuen Staat gründen. Dieser soll modern, voller Liebe, Militär-Verehrung und Musik sein. Als Minister sollen „harmlose Irre“ aus psychiatrischen Anstalten aus ganz Italien eingesetzt werden – u.a. auch aus Pergine. Cherubino wird beauftragt, den Patienten Zino nach Fiume zu begleiten. Dort angekommen ist Cherubino über praktische Umsetzung dieses modernen Staates schockiert: Orgien, Drogenexzesse, ständige Feiern und keine Justiz. Dennoch beschließt er mit Letizia als Begleiterin dort zu bleiben, um „auf die Irren aufzupassen.“ Denn andere Pfleger verlassen die Stadt schnell wieder oder werden versehentlich bei Salut-Schüssen umgebracht.
Und so nimmt das Treiben in der Republik Fiume seinen Lauf…
Geschichtlicher Hintergrund
Die Geschichte der Gründung des Staates Fiume im Jahr 1919 ist tatsächlich eine wahre Begebenheit. D’Annunzio – Dichter, Schriftsteller, Kriegsheld, Anhänger des Futurismus und: eng vertraut mit Mussolini – herrscht 15 Monate lang als diktatorischer „Präsident“. Damit legt er den Grundstein für den Faschismus, der wenig später ganz Europa verändern wird.
Ob wirklich psychisch kranke Menschen als Minister eingesetzt worden, ist jedoch online nicht verifizierbar.
Rezension
Die skurrilen Erlebnisse von Cherubino in Fiume werden in einem poetisch anmutenden Schreibstil geschildert. Dabei lassen sich historische Fakten und belletristische Ausschmückungen nicht klar voneinander trennen. Und so staunt der Leser gemeinsam mit Cherubino über die praktische Umsetzung von D’Annunzios Vorstellungen eines modernen Staates.
Inhaltlich wird im Buch relativ lange Cherubinos Lebensweg und seine Anfänge in Pergine behandelt, ehe dann langsam zum Hauptthema – der Geschehnisse in der Republik Fiume – übergeleitet wird. Dadurch baut man als Leser eine bessere Bindung zum Hauptprotagonisten auf, lernt, die intradiegetische Welt aus seiner Sichtweise zu sehen. Der Weg nach Fiume wird erneut recht lange und langsam wirkend beschrieben – entsprechend der Reisemethode. Was anfangs verwunderlich und kürzbar wirkt, stellt sich als wertvoll für den späteren Verlauf der Geschichte heraus. Denn während Cherubinos, Letizias und Zinos Reise lernt man letzteren besser kennen. Er wird als „harmloser Irrer“ zum Minister für Handstreiche in Fiume ernannt und ist nach der Ankunft in Fiume Cherubinos und Letizias Hauptaufgabe: die beiden bleiben in der Stadt, um Cherubinos Auftrag, sich um Zino zu kümmern, zu erfüllen.
Der beschriebene Alltag in Fiume in den nachfolgenden 15 Monaten gestaltet sich als äußerst bizarr und wirkt wie aus einem Fiebertraum. Cherubino und Letizia arrangieren sich bestmöglich mit der Situation, der Leser mit ihnen.
Besonders beeindruckend wirken die wirren Ansprachen und Auffassungen der Futuristen wie D’Annunzio. Hier ein Beispiel aus D‘Annunzios erste Ansprache als Regierungsoberhaupt von Fiume:
„Fiume ist ein Phönix aus der Asche des 19. Jahrhunderts. Wir all sind beseelt von einer fieberähnlichen Abscheu vor dem harten und grauen Alltagsleben und wischen die bürgerlichen Tugenden beiseite. Sparsamkeit. (…) Wir scheißen drauf! (…) Stattdessen (…) feiern wir in einer heroischen Orgie voller Leidenschaft das schöne Hier und Jetzt!“ (S. 136)
Wenig später schiebt er hinterher: „Ich habe eben erfahren, dass die Abteilung für Geschlechtskrankheiten im Krankenhaus überbelegt ist (…) Ich gratuliere euch! Das zeigt, dass ihr zu lieben wagt und dabei mutig den Gefahren trotzt. Lieber untergehen als nicht lieben!“ (S. 137)
An Optimismus und Lebensfreude fehlt es in dem modernen Staat also definitiv nicht. Im krassen Kontrast zu den neuen Idealen steht die unterschwellig vermittelte Nähe zum Faschismus und zum Krieg: „Was für eine Atmosphäre, was für ein Leben! Fiume! (…) Die Luft vibriert vor Energie! Überall Plakate, Kundgebungen, Waffen!“ (S. 138) Der Alltag in Fiume wirkt dadurch gelöst und frei mit einem bedrohlichen Unterton – was die Erzählung umso fesselnder macht.
Fazit: Eine uneingeschränkte Leseempfehlung!
Dirk Stermann: Die Republik der Irren.
Rowohlt, September 2025.
304 Seiten, Hardcover, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Kati Szangolies.