Viorel ist nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter abgefahren – mit ihrer Leiche im Kofferraum, weg aus Essen-Vogelheim, hin in den Wilden Osten Europas. Der dicke, phlegmatische Junge entwickelt plötzlich Energie und Tatendrang, um den letzten Wunsch der Mutter, nämlich in der Heimat begraben zu werden, zu erfüllen. Schon zu Beginn des Romans stellt der Autor eine Verbindung her zwischen Bram Stokers „Dracula“ und dem Land, in das Viorel reist: Rumänien.
Gleich vorweg: Es erhöht die Spannung und Lesefreude, wenn man die klassische Dracula-Geschichte kennt.
Viorel hat das Ruhrgebiet nie verlassen, bei Kilometer 279 beginnt die Reiseerzählung, wobei Roadmovie die Stimmung des Textes besser trifft.
Die Reise gestaltet sich schwierig, das Auto ist alt, der Sprit knapp, ebenso das Geld, und der Leichnam ein Risiko. Außerdem besitzt Viorel keinen Führerschein. Dass seine Mutter nicht monatelang, durch Schläuche versorgt, im Krankenhaus dahingesiecht ist, ist ihm ein Trost. Trotzdem ist seine Trauer riesig und er bekämpft das Gefühl – wie alle Gefühle – mit viel Zucker, Kohlehydraten und Fett. Das Thema Essen begleitet Viorel die ganze Reise über, Essen aus Lust, zum Glücklichsein, auf Kommando.
Von Deutschland aus geht es nach Österreich, inzwischen hat Viorel einen osteuropäischen Mann als Anhalter mitgenommen, der mehr wie ein Untoter denn wie ein lebendiger Mann wirkt und tatsächlich irgendwann als zweite Leiche im Kofferraum landet. Vorher klärt er Viorel über Vlad Tepes, den Pfähler auf. Viorel kennt sich eher aus mit Underworld, The Walking Dead und Interview mit einem Vampir, wird aber mehr und mehr in die alte Vampirwelt aus Aberglauben und Düsternis hineingezogen, in ein Land, das ihm wie aus der Vergangenheit stammend erscheint.
In Ungarn, nach elf Stunden Fahrt, ist Viorel erschöpft, er hat es nicht so mit körperlicher Ausdauer. Sein schwerer Körper ist ihm im Weg, schon immer wäre er lieber ein anderer gewesen.
In Rumänien begegnet er nun merkwürdigen Leuten, die ihn mit ungeahnter Herzlichkeit aufnehmen, die weder an seinem Vorhaben noch an seiner Konstitution etwas Merkwürdiges finden.
Viorel, der immer nur die Mutter gehabt hat, findet nun so etwas wie Familienbande, plötzlich erzählt man ihm, dass er einem entfernten Verwandten ähnlich sehe, er schlüpft in die Klamotten eines Toten.
Die Handlung des Jugendbuches in vielerlei Hinsicht völlig abgefahren und mit viel Tiefe erzählt, der dicke Außenseiter, die Themen Familie und Tod und die raffinierten Verweise zu Stokers Dracula faszinieren absolut. Die ganze Geschichte ist viel verrückter und obskurer, als hier angedeutet werden kann.
Gut, dass skurriler Humor die vielen ernsten Themen wuppt, daher auch für Erwachsene: LESEN – am besten auf der Autofahrt in die Ferien, ohne Leichen im Kofferraum!
Dirk Pope: Abgefahren.
Hanser, Februar 2018.
240 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.