Audrey Magee: Die Kolonie

Irland Anfang der 1980-er Jahre. Iren und Briten bekämpfen einander, beinahe täglich gibt es neue Nachrichten über Bombenattentate, gezielte Erschießungen und Sprengstoffanschläge. Auch auf einer rauen Insel vor Irland erfährt man davon im Radio. Dort lebt der junge James, der die Fischerei verabscheut, weil sein Vater, sein Großvater und sein Onkel auf See ertrunken sind und nie gefunden wurden. Nur er, seine Mutter, seine Großmutter, die Urgroßmutter und einige alte Leute, die aber in der Geschichte keine Rolle spielen, sind auf der Insel übriggeblieben. Es ist Sommer und ein gewisser Mr. Lloyd, ein mittelmäßig talentierter Maler aus London, quartiert sich ein. Er möchte bis in den Herbst bleiben, um die Klippen, den Himmel, das urtümliche Land zu malen. Es dauert nicht lange und ein weiterer Sommergast taucht auf. Jean-Pierre Masson, genannt JP, ist Linguist, kommt aus Paris.

Sein Spezialgebiet sind aussterbende Sprachen. Er war schon mehrere Sommer vor Ort, um an seiner Dissertation zu schreiben. James` Urgroßmutter ist eine der letzten Sprecherinnen eines uralten Dialektes, seine Großmutter versteht ein bisschen Englisch und spricht Irisch, seine Mutter versteht Englisch und spricht es in Ansätzen auch, James versteht und spricht beide Sprachen. JP und Lloyd können sich auf Anhieb nicht leiden. Ein jeder fühlt sich vom anderen gestört, will die Insel für sich haben, um etwas „mitzunehmen“. Der eine Bilder von unberührtem Land, der andere die letzten Zeugnisse einer verschwindenden Sprache. Schließlich verbringt Lloyd lange Phasen in einer einsamen Hütte, um zu malen und JP zeichnet die Gespräche mit der Urgroßmutter auf Tonband auf. Ihre Mahlzeiten nehmen sie großteils mit James und seiner Familie ein, zu der sich oft Francis, James´ Onkel, und Micheal, der die Inselbewohner mit Waren vom Festland versorgt, gesellen. Als James Lloyds Bilder sieht und ihm Verbesserungsvorschläge macht, entdeckt er sein künstlerisches Talent und beschließt, er will unbedingt malen. Lloyd muss eingestehen, James´ Bilder sind überzeugend. Er schlägt vor, ihn mit nach London zu nehmen und sechs von seinen Bildern in der Galerie seiner Geliebten neben seinen eigenen Werken auszustellen. James freut sich sehr über dieses Angebot und will die Insel unbedingt mit Lloyd verlassen, obwohl alle ihn immer wieder vor der Heimtücke der Engländer warnen. Seine Mutter aber unterstützt seinen Plan. Da entdeckt er kurz vor der Abreise, dass Lloyd alle seine Ideen, alle Motive von ihm gestohlen hat. Lloyd hat skrupellos James´ Arbeiten kopiert und als er die Insel verlässt, nimmt er nur seine Bilder mit, die von James und James selbst lässt er zurück. Auch JP ist fertig mit seiner Arbeit und fährt heim nach Frankreich.

Audrey Magee zieht mit ihren Beschreibungen die Leser in ihren Bann. Die Gischt an den Felsen, das Licht auf dem Meer, die karge Vegetation auf der Insel, die Autorin malt mit Sprache. Dazwischen fügt sie immer wieder die sachlichen Berichte von blutigen Anschlägen, die Namen und kurzen Biografien der Todesopfer. Irland widersetzt sich der „Kolonialisierung“ durch die Engländer, die im Grunde schon abgeschlossen ist. Ein wunderbares und ein erschütterndes Buch.

Audrey Magee: Die Kolonie. Roman. Aus dem Englischen von Nicole Seifert.
Nagel und Kimche, Jänner 2025.
399 Seiten, Hardcover, 24,67 €.

Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.

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