Ist es Mut oder Verzweiflung, als Delia am Strand die Familie verlässt? Ohne Worte und Ankündigung verschwindet sie und landet per Zufall in der Stadt Bay Borough. Kurz nach ihrer Ankunft kauft sie Kleidung, weil sie noch immer ihre Badesachen trägt. Sie findet ein Zimmer zur Untermiete, eine Arbeit als Bürokraft bei einem unangenehmen Anwalt. Aus ihrem Provisorium wird ein kleines, eigenständiges Leben, zu dem allmählich Freundschaften hinzukommen. Irgendwann hat nicht nur die Polizei verstanden, dass hinter Delias Weggehen kein Verbrechen steckt. Die Familie schweigt, und Delia ist verletzt und befreit zugleich. Nach über einem Jahr erhält sie von ihrer Tochter die Einladung zu ihrer Hochzeit. Den offenen Fragen kann sie nun nicht mehr aus dem Weg gehen.
Anne Tylers Roman »Kleine Abschiede« zählt zu ihren berühmtesten. Sie erzählt nicht nur meisterhaft, sondern bricht auch mit leichter Hand Tabus, indem sie Mütter thematisiert, die Mann und Kinder verlassen. Alles hat eine Vorgeschichte, die des Auseinanderlebens.
»… Zeugen ihres Weggangs – ihr Ehemann … 55 …, ihre drei Kinder … 21 … 19 … 15 … gaben zu Protokoll, dass … sie einfach fortging. Die Tatsache, das sie nicht zurückkam, wurde erst am späten Nachmittag bemerkt.« (S. 5)
Die Entfremdung geht sogar noch weiter:
»… Mrs. Grinstead ist eine schlanke, zart gebaute Frau mit blonden bis hellbraunen Locken; sie ist zwischen 1,58 m und 1,65 m groß und wiegt 50 bis 60 kg. Augen blau, grau oder auch grün …« (S.5)
Wie viele Jahre der Lieblosigkeit stecken in dieser Personenbeschreibung?
Sie liest sich so, als wäre ein vergessenes Haustier entlaufen, für das man sich irgendwie noch verpflichtet fühlt.
Schon als Jugendliche wurde Delia in der Praxis ihres Vaters gebraucht. Und als dieser aus Altersgründen die Praxis seinem Nachfolger Sam übergab, erschien es praktisch, wenn Sam auch eine seiner drei Töchter heiratet. Die schüchterne Delia, gerade mit der Schule fertig, ist für ihn die ideale Ehefrau. Sie funktioniert optimal, arbeitet wie gewohnt in der Praxis, führt den Haushalt und bekommt drei Kinder.
Ohne dass es Delia will, landet sie in der klassischen Krise am Ende eines Lebensabschnitts: Das alte Leben hat seinen Zweck erfüllt und ein neues mit neuen Inhalten wird herbeigesehnt. Ob mit oder ohne Partner.
»… Sie ging … ihre gleichmäßigen Schritte erinnerten sie an irgendeine Melodie … Einerseits horchte sie, was Sam unternahm …, aber andererseits war sie froh, dass sie ihn los war, und zufrieden, dass sich ihre Meinung über ihn bestätigt hatte.« (S. 55)
»… Er war kein Mann, der einen Korb riskierte. Er bat nicht, er handelte nicht, er nahm nichts zurück; er hatte noch nie im Leben einen Fehler gemacht.« (S. 345)
Aber Delia macht Fehler. Sie nimmt sich das Recht, eigene Fehler zuzulassen. Ihre kleinen Abschiede vom alten Leben erlauben ein neues Leben, eines in dem noch alles offen ist.
Die mit Preisen dekorierte Anne Tyler wird zu den erfolgreichsten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur gezählt. Ihren wunderbaren Roman genießt man am besten mit einer Portion Lebenserfahrung.
Anne Tyler: Kleine Abschiede.
Kein & Aber, September 2016.
464 Seiten, Taschenbuch, 13,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.