Rosie hat schon immer das Meer geliebt, und auch die Insel, auf der sie lebte und die Fähre ihres Vaters, die die Verbindung zwischen der Insel und dem Festland garantiert. Schon als Mädchen lernte sie, sich in einer Männerwelt durchzusetzen. Mit Anfang zwanzig erhielt sie das Kapitänspatent.
Trotzdem verlief ihr Leben genauso wie bei anderen Frauen: Für ihren Mann gab sie alles auf. Rosie zog nach Dublin. Zwei Kinder und die Karriere ihres Mannes bildeten den Rahmen ihres Daseins.
„… Im Laufe der Jahre hatte ich es aufgegeben, meine Kinder daran hindern zu wollen, diese dunklen, glitschigen Felsen hochzuklettern. … Doch keine dieser Schürfwunden konnte mein furchtloses Duo stoppen, also gab ich den Versuch auf, sie zu zügeln und machte stattdessen mit, in der Hoffnung, so etwaige Katastrophen verhindern zu können.“ (S. 182)
Als Rosie eines Tages mal nicht hinschaute, verschwand ihre Tochter. Vor dem Haus hatte sie ihr Fahrrad zurückgelassen.
Rosies Leben ist nach diesem Schock ein anderes. Hoffnung und Verzweiflung wechseln sich im Laufe der nächsten Jahre ab. Sie beginnt alles zu verlieren, was sie liebt.
Die erfolgreiche irische Autorin Anne Griffin hat für ihren aktuellen Roman, Rosies Geschichte in einen raffinierten Aufbau eingebunden, der bei der Lektüre immer wieder neue Impulse gibt und neugierig macht. Sie schenkt ihrer Leserschaft darüber hinaus charakterstarke Persönlichkeiten, die kämpfen und einstecken müssen. Und dies reichlich.
Der Titel beschreibt die Gemütslage der Ich-Erzählerin Rosie. Hoffnung und Wünsche heben sie hoch. Danach fällt sie in ein Wellental, um erneut hoch und runter und wieder hoch- und abzusteigen. Nur eine Konstante ist an ihrem Horizont. Sie will um jeden Preis ihre Tochter zurück. Wie viel kann sie aushalten? Sie ist kein Hiob, der sich nach jedem Schicksalsschlag darüber hinwegtröstet, Teil einer göttlichen Ordnung zu sein. Rosie kann kämpfen, aber wie lange noch.
In einer anteilnehmenden schönen Erzählsprache beschreibt Rosie, wie sie ihre ganz persönliche Talfahrt erlebt. Und wie jeder weiß, wenn man ganz unten angekommen ist, geht es irgendwann wieder aufwärts.
Anne Griffin zeigt am Beispiel der Erzählerin, wie stark Frauen sein können, wenn sie es müssen. Damit schenkt sie nach einer kurzweiligen, gefühlsbetonten Lektüre ein Quäntchen Trost und Zuversicht.
Anne Griffin: Wellengang
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Ruben Becker
Kindler Verlag, Juli 2024
400 Seiten, gebundene Ausgabe, 25,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.