Literaturkritiker Denis Scheck hat das Buch bereits als „modernen Hexenroman“ bejubelt. Dem positiven Tenor kann man nur zustimmen. Aber Obacht! Der Begriff Hexenroman könnte in manchen Lesern falsche Erwartungen wecken. In Zaia Alexanders Werk gibt es keine übernatürlichen Kräfte, Zaubersprüche und Hexentränke, erst recht keine Frauen, die auf Besen durch die Nacht fliegen. Ihr Hexenroman ist viel subtiler. Es geht um Themen wie Selbstfindung, Abhängigkeiten und Potentialentfaltung. Darum, den richtigen Weg einzuschlagen, dabei die Zeichen und Menschen zu erkennen, die einen auf diesen Weg führen.
Auf einen wichtigen Hexenbegleiter wollte die Autorin in ihrer modernen Version allerdings nicht verzichten: Katzen! Diese nehmen in dem Roman eine wesentliche Rolle ein, sie erfüllen die Funktion eines zweibeinigen Handlungsträgers, agieren gleichwertig mit den menschlichen Figuren. Eine ungewöhnliche Perspektive, die nicht nur Katzenliebhaber begeistern dürfte. Auch die zweiten Wegbegleiter sind ungewöhnlicher Natur: Kinder. Die Autorin tauscht gekonnt die Blinkwinkel und lässt jene Schutzbefohlenen, die eigentlich von einem Erwachsenen erzogen oder domestiziert werden, zu den eigentlichen Lehrmeistern der Protagonistin werden. Auch sonst ist nichts so, wie Leser es bei einem konventionellen Hexenroman erwarten würden.
Zur Story: Lou lebt in der Stadt der Engel, Los Angeles. Allerdings eher auf der Schattenseite. Sie wurde auf der „falschen Straßenseite“ geboren, lebte bei einer depressiven Mutter, wurde in der Schule gehänselt. Auch als Erwachsene fasst sie keinen Fuß und strauchelt mit ihrer erfolglosen Produktionsfirma durch Hollywoods Schein- und Glitzerwelt. Durch einen Bekannten kommt sie mit einem Netzwerk von Hexern in Kontakt. Diese treffen sich zu wöchentlichen Bewegungsübungen im Tanzstudio und scheinen Gefallen daran zu finden, Lou in ihren Kreis aufzunehmen. Dies hat seinen Preis. Lou soll radikal mit ihrem bisherigen Leben brechen. Wortlos verlässt sie ihre Mitbewohnerin, um in einen Bungalowkomplex einzuziehen, der dem Anführer der Hexer gehört. Ständig wird sie bewussten oder unbewussten Prüfungen unterzogen, das Verhalten ihrer Mitstreiterinnen ist suspekt, manchmal schonungslos ehrlich. Schon bald wird Lous Leben gänzlich von den Hexern bestimmt, die ihr helfen wollen, ihre eigentliche Lebensaufgabe zu erkennen. Hier streift Zaia Alexander Themen wie der Wunsch nach ZugeHÖRIGKEIT, die durchaus kontrovers angesehen werden dürfen. Es werden Träume gedeutet und Ratschläge erteilt, die mysteriös anmuten, ohne wirklich paranormal zu sein, zum Beispiel: „Du hast das große Glück, einem Ungeheuer begegnet zu sein. Deine Mutter und dein Vater hatten das nicht. Sie waren in ihren Selbstbespiegelungen gefangen, in ihrem Ich, Ich, Ich. Aber du hast die Chance, eine Chance zu haben.“
Zaia Alexander meistert den Spagat, Dinge anzusprechen, die außerhalb der „normalen“ Wahrnehmung liegen, aber dabei im Bereich des Realen und Möglichen zu bleiben. Im Folgenden treten eine Adoptivtochter sowie eine Fundkatze in Lous Leben, die ihr mehr auf ihrem Lebensweg beibringen, als so mancher Hexer. Die Autorin formuliert Szenen, die wirklich unter die Haut kriechen. Sie springt in der Chronologie hin und her, während sich im Hintergrund ein diffuses, hitzig-mattes Los Angeles entfaltet. Lous Wahrnehmung verändert sich, sie nimmt neue Perspektiven ein, erkennt ihren Weg samt ihren Grenzen. Und sie weiß endlich die richtige Antwort auf die Frage „Was gibt’s Neues?“
Der Autorin Zaia Alexander, die in Potsdam und Los Angeles lebt, ist ein ungewöhnlicher Roman gelungen. Sie deckt den Zauber, die Ungereimtheiten, die unbeachteten Zeichen auf. Das Außergewöhnliche unseres Alltags. Was unter der Kruste verborgen liegt und brodelt, ob mit oder ohne Erdbeben. Sie zeigt, dass das Leben immer auch anders sein kann, wenn wir den Mut haben, auszuscheren. Wir alle sind oder können Hexer sein, wenn wir an unserer Wahrnehmung arbeiten und neue Perspektiven einnehmen. Zum Beispiel durch die Aufhebung der Trennung zwischen Erwachsenem und Kindern, zwischen Menschen und Tieren. Lehrmeister müssen keine alten, grauen Männer sein. Die Katze heißt nicht umsonst „Sophie“ nach dem griechischen Begriff für Weisheit. Tochter Lola antwortet auf die Frage, wer sie eigentlich sei mit einem „Ich bin ein vierundachtzigjähriger Chinese.“
Zaia Alexander hat einen Grenzgänger der Genres geschrieben. Einen modernen Hexenroman, der das natürlich Ungewöhnliche beschreibt. Subtil und poetisch mit Gänsehautmomenten im Bereich des Begreifbaren. Ungewöhnlicher Ansatz, ungewöhnliches Buch. Und ein Muss für jeden Liebhaber der eleganten, klugen Samtpfoten. Soviel Hexe muss dann doch sein!
Zaia Alexander: Erdbebenwetter.
Tropen, August 2020.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
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