Die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann (Jahrgang 1970) erntete 1998 für ihre Debüt-Erzählungen „Sommerhaus, später“ viel Lob. 2014 erschien ihr erster Roman „Aller Liebe Anfang“. 2016 veröffentlichte sie mit „Lettipark“ wiederum ein Buch mit Erzählungen. Nun erschien am 28. April 2021 ihr zweiter Roman mit dem Titel „Daheim“ im S. Fischer Verlag. Mit diesem Buch ist sie für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 nominiert. Und das völlig zurecht. Judith Hermann ist eine wunderbare Erzählerin. In „Daheim“ erzählt sie die Geschichte einer Frau, die nach der Trennung von ihrem Mann und dem Auszug der erwachsenen Tochter an einem neuen Ort neu anfängt.
Vor dreißig Jahren arbeitete diese Frau, deren Namen wir als Leserinnen und Leser nicht erfahren, in einer Zigarettenfabrik und hatte die Chance, mit einem Zauberer auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur zu reisen. Als Assistentin, die sich in einer Kiste zersägen lässt. Damals ist sie nicht gefahren. Sie hat Otis geheiratet und ihre Tochter Ann bekommen.
An die „zersägte Jungfrau“ erinnert sie sich in dem Haus am Meer, in dem sie jetzt allein lebt. Sie arbeitet bei ihrem Bruder Sascha in einer Kneipe am Hafen. Sie lernt die Künstlerin Mimi und den Bauern Arild, Mimis Bruder, kennen. Die Frau schreibt ihrem (Ex-) Ehemann Otis kleine, zärtliche Botschaften über ihr Leben im Dorf an der Küste. Selten skypt sie mit ihrer Tochter, die ihr ihren Aufenthaltsort via Koordinaten mitteilt. Der Bruder der Frau ist unglücklich in die zwanzigjährige Nike verliebt, die ihn an der Nase herumführt und kein gutes Ende nimmt. Mimi wird zur Freundin, und die Frau beginnt eine Beziehung mit Arild. Eines Nachts wacht die Frau durch Geräusche vom Dachboden auf. Ein Tier ist im Haus. Arild stellt eine Marderfalle auf.
Die Ich-Erzählerin in „Daheim“ ist eine Endvierzigerin, die ihr Leben noch einmal neu sortiert. Und sich dabei schmerzlich des Vergangenen erinnert. Ich als Leserin begleite die Figur in ihrem Alleinsein, ihrer Distanz zu anderen Menschen und ihrem vorsichtigen Bemühen, für sich selbst eine neue Lebensperspektive zu gewinnen und Beziehungen zu knüpfen. Ich fühle ihr Ringen darum, ob sie ein neues „Daheim“ gefunden hat oder ob sie sich wieder auf den Weg machen muß, weil „sie trotzdem noch Jahre später das Gefühl hatte, etwas von sich in dieser Kiste verloren zu haben.“ (S. 186).
Judith Hermann erzählt diese Geschichte in eindrücklichen Sätzen, zunächst in der Vergangenheits- und dann in der Gegenwartsform. Sie beläßt es bei einer überschaubaren Anzahl von Personen. Diesen gibt sie teils heftige und grausame Familienbiografien mit, die Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen. Sie wählt als Schauplatz ein Dorf und reduziert die Handlungen auf das Nötigste. Sie hält die Dialoge kurz und knapp. Sie schreibt: „Ich sagte…Er sagte…“ ohne Anführungszeichen. Sie streut hier und da Bilder über die Küstenlandschaft ein. Und heraus kommt eine geballte Ladung an Intensität. Diese Intensität erinnere ich auch aus ihren Erzählungen, ganz besonders in „Sommerhaus, später“, aber auch -etwas schwächer- in „Nichts als Gespenster“ oder „Lettipark“. Dabei macht sie das Alltägliche mit ihrer Sprache besonders.
Judith Hermanns Frau in der Geschichte muss noch einmal erwachsen werden, sich emanzipieren von ihren vermeintlich verpassten Chancen, lernen, sich „Daheim“ zu fühlen und frei zu sein.
Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist ein sehr gutes Stück Literatur, dem jeder Preis zu gönnen ist.
Judith Hermann: Daheim.
S. Fischer, April 2021.
192 Seiten, Gebundene Ausgabe, 21,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.
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