Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen

Wie in einen fiebrigen Traum treibt uns die Autorin Raffaela Edelbauer durch eine Wiener Nacht. Aber nicht irgendeine: Es ist der 30. Juli 1914. Die letzte Nacht vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Menschenmassen feiern, taumeln, wissen nicht wohin mit sich und ihren Gefühlen. Alles ist auf den Beinen, alles ist im Umbruch. Meisterlich beschreibt die österreichische Schriftstellerin, was hinter den erhitzten Gemütern lodert, was die Stimmung explodieren lässt, was eine Zeitenwende einleitet. Es ist nicht nur der Konflikt zwischen Nationen. Es sind mannigfaltige Brennpunkte. Proletarier gegen Aristokratie, Tradition gegen Moderne, Männern gegen Frauen, Wissenschaft gegen Spiritualität. Drei junge Menschen stehen sinnbildlich für die Tragödie dieser Nacht. Eine Generation voller Hoffnungen, voller Hunger – zum Scheitern aufs Schlachtfeld geführt.

Der 17-jährige Tiroler Hans flüchtet in einer Nacht- und Nebelaktion von dem Bauernhof, auf dem er seit Jahren als Pferdeknecht geschuftet hat. Der uneheliche Sohn eines Holzexporteurs ist belesen. Sein Wissen findet durch seine prekären Umstände allerdings kaum Anwendung. Er denkt, da muss noch mehr kommen im Leben. Er weiß nur noch nicht was. Da er bei sich eine seltene Gabe vermutet, sucht er die Psychoanalytikerin Helene Cheresch auf, die sich mit Phänomen wie Traumdeutung und kollektivem Unterbewusstsein befasst.

Unterschiedliche Herkunft

Vor ihrer Praxis lernt er zwei junge Leute kennen, die ebenfalls bei Cheresch in Behandlung beziehungsweise Teil ihrer Studien sind. Da ist Klara, selbst aus bitterärmsten Verhältnissen stammend, die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität in Mathematik promovieren will. Am nächsten Tag findet Ihr Rigorosum statt, der Vortrag ihrer Abschlussarbeit, zum Thema „Die Inkommensurablen“, die irrationalen Zahlen. Der befreundete Adam stammt dagegen aus einer adligen Familie. Von Glück gesegnet ist er deshalb noch lange nicht. Von Kindesbeinen an wurde er militärisch gedrillt, er soll bei Kriegsbeginn gleich eingezogen werden. Dabei gilt seine Leidenschaft der Musik, die er jedoch nicht ausleben darf, da andere seine Geschicke lenken.

Für die jungen Menschen steht fest: Ab morgen wird alles anders. Diese Erkenntnis schweißt die Drei zusammen. Gemeinsam treiben sie atemlos durch die verschiedenen Welten Wiens. Sie essen bei Adams Eltern zu Abend, im Kreise hochrangiger Offiziere, die geifernd dem Ersten Weltkrieg entgegenfiebern. Im Probenraum von Adams Orchester werden sie Zeuge, wie die Lage zwischen den jungen Männern aufgrund unterschiedlicher Kriegseinstellungen eskaliert. Sie durchstreifen das Elendsquartier, in dem Klaras Familie haust. Hier teilen sich mehrere Bettgeher schmutzige Matratzenlager, erfrieren Säuglinge in kalten Winternächten, verlieren Menschen Würde und Privatsphäre. Die Drei landen in verruchten Clubs, in denen Swing getanzt wird, Anarchisten den Umsturz planen und freie Liebe unter allen Geschlechtern praktiziert wird. Sie besuchen unterirdische Parallelwelten, nehmen Teil an spiritistischen Sitzungen. Die ganze Nacht lang treiben durch die Straßen Wiens und merken am eigenen Leib, wie das Individuelle dem Sog des Kollektiven weicht. „Jeder Mensch hatte an diesem Morgen einen neuen Wert erhalten. Jedes Glas Wein, das man trank, jedes Stück Brot, das man verzehrte, war nun Staatsangelegenheit, weil er von der Solidarität oder Abweichung mit und von dieser Masse zeugte, die da unten wogte“ (S. 301).

Erfolg beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb

Raphaela Edelbauer, die unter anderem den österreichischen Buchpreis und den Publikumspreis des Ingeborg Bachmann-Wettbewerbs gewonnen hat, wird bisweilen als österreichische Antwort auf Joyce Carol Oates bezeichnet. Sie kann diesem Vergleich standhalten. Sprache, Stil, Bildwelten – doch am Eindrücklichsten sind sicherlich die verschachtelten Erzählwelten.  Ihre Abstecher in die Bereiche Mathematik, Musik, Mystik und Psychologie, die als Allegorien und Metaphern auf reale Begebenheiten verstanden werden können. Die Inkommensurablen, die irrationalen Zahlen oder physikalisch gesehen, das was sich nicht messen und vermengen lässt, werden zum Symbol der gesellschaftlichen Lage im Jahr 1914. Die Lager sind verhärtet, auf allen Ebenen. Emotionen haben die Ratio schon längst außer Kraft gesetzt. Es sind Sätze wie „Mystik und Wissenschaft werden einander faszinierenderweise ähnlich, wenn man sie bis zum Exzess betreibt.“ (S. 312) die sich ins Gedächtnis einbrennen. Lange Zeit bleibt zudem unklar, ob die Bereiche Traumcluster und kollektives Unterbewusstsein im Plot ins Phantastische abdriften oder nicht. Die Auflösung ist so einfach wie erschreckend. Manipulation kennt viele Gesichter, auch heute noch.

Fazit: Ein Roman mit Sogwirkung, gleich einem fiebrigen literarischen Traum, der den Begriff einer Zeitenwende in eindrucksvollen Szenen darstellt. Das atemlose Erzähltempo, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die starken Symbolwelten aus den Bereichen Mathematik und Psychologie – dieses Buch ist wie geschaffen für durchwachte beziehungsweise durchgelesene Nächte. Lassen Sie sich mitreißen!

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen.
Klett Cotta, Januar 2023.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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