Manchmal braucht der Mensch eine Weile, um sich mit seinem Schicksal und den eigenen Fehlern auszusöhnen. Manchmal ist die Wahrheit die Lüge, an die man glauben möchte.
Der Ich-Erzähler steht am Ende eines ereignisreichen Lebens. Er will seinem Enkel seine Lebensgeschichte, die Geschichte seiner Familie und somit von seinem Erbe erzählen:
Als der Ich-Erzähler geboren wurde, entschied seine psychisch erkrankte Mutter, ihr Junge leide an einer seltenen und gefährlichen Hautkrankheit. Um nicht zu sterben, dürfe er nie die Sonne sehen. Deshalb schlief der Ich-Erzähler immer am Tag und spielte nachts mit seiner Mutter. In dem Leben des Jungen gab es nur die Mutter und eine große Einsamkeit. Im Alter von sieben Jahren bekam er einen Helm und ging damit zur Schule. Sonst änderte sich wenig. Er blieb ohne Freunde. In seiner Freizeit hätte er noch lange in seinem abgedunkelten Zimmer bleiben müssen, wäre nicht Bob aus London aufgetaucht.
Seine Mutter und der Brite wurden ein Paar. Schon bald schien es im Haus des Erzählers aufwärtszugehen. Bob reparierte, renovierte, putzte und kümmerte sich auch um die darin wohnenden Menschen. Die Mutter blühte auf. Und eines Tages vertraute ihm auch der Ich-Erzähler. Bob durfte das vom Helm geschützte Gesicht genauer betrachten. Kurz darauf brachte Bob den Jungen in eine Klinik, wo die Ärzte ihm versicherten, gesund zu sein. Sein Gesicht sei nur mit harmlosen Warzen übersäht. Innerhalb weniger Wochen würde eine Salbe alles in Ordnung bringen. Die Ärzte behielten Recht. Doch die Spuren auf der Seele des Ich-Erzählers konnten nicht geheilt werden. Dafür brauchte er eine andere Medizin, die ihm niemand geben konnte. Nur die Zeit gab sie ihm, die bekanntlich viele Wunden zu heilen vermag.
Der unter dem Pseudonym R.R. Sul schreibende Autor hat eine ergreifende und nicht alltägliche Familiengeschichte erzählt, die so dicht und kurzweilig geschrieben ist, als würden die vielen Jahrzehnte in nur wenigen Wochen erlebt. In seinem offen gehaltenen Erzählstil ist Herzblut und ganz viel Ehrlichkeit zu spüren. Das persönliche Anliegen, einen heilenden Prozess einzuleiten, bedeutet für den Ich-Erzähler, Glück und Familienleben in Einklang zu bringen. Eine auf die nächste Generation weitergereichte, verkorkste Erziehung kann und darf bei den eigenen Kindern gestoppt werden. Der Ich-Erzähler springt hierfür über den eigenen Schatten und hört auf den Rat seines Großvaters: „… Hau dem Leben die Zähne in den Arsch.“ (S. 160) Manchmal ist dies ganz einfach.
R.R. Sul: Das Erbe.
dtv, September 2019.
224 Seiten, Gebundene Ausgabe, 21,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.