Erscheint ihre Mutter, sieht Thene rot! Dies liegt nicht nur an der stets signalfarbenroten, viel zu engen Garderobe ihrer Mutter. „Als wollte Mama nicht nur alle Menschen ihrem Willen unterwerfen, sondern auch alle Augen zwingen, sich immer nur auf sie zu richten“. Die 25jährige Thene, welche gerade in Oxford ihren Abschluss macht, stammt aus einer durchgeknallten Familie. Ein schwuler Vater, eine nudistisch veranlagte Oma, ein zaubernder Bruder. Der Roman liest sich wie eine einzige Aneinanderreihung skurriler Situationen und pointierter Streitgespräche! Für dieses makabre, irrwitzige Debüt wurde Nele Pollatschek mit dem Hölderlin Förderpreis ausgezeichnet.
Eigentlich freut sich Thene darauf, ihren Masterabschluss an der renommierten Oxford-Universität zu feiern. Leider hat ihre Mutter beschlossen, diesem Event beizuwohnen. Was bedeutet, dass sich wieder alles nur um sie drehen wird. Thenes Mutter ist Punkerin, Weltretterin, betreibt einen investigativen Blog, verliebt sich grundsätzlich in Looser und stellt ihre eigenen Belange über die ihrer Kinder. Sie macht Dinge einfach deshalb, weil andere sagen, dass sie nicht funktionieren werden. Höchst manipulativ versucht sie, ihr Umfeld nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Notfalls mit Gebrüll oder Geheul. Ein Streit um bunte Socken endet schnell in einem Grundsatzdialog. So schafft es ihre Mutter auch diesmal, allerdings unfreiwillig, Thenes Ehrentag zu überschatten.
Thene hingegen hat sich von der Welt politischer Parolen und Möchtegern-Kommunisten ihrer Familie abgewandt. Ihre Flucht führt in den Odenwald. Wenn sie nicht gerade in England ist, genießt sie hier ihre Wochenenden auf einem Klappstuhl im Grünen mit ihrem Freund Paul plus dem Verzehr diverser Kirschjockel. Thene wählt den soliden Weg. Kein Wunder, nach dem Durchzug diverser Stiefväter hat sie früh die Verantwortung für sich und ihren jüngeren Halbbruder übernommen. Auch der Rest ihrer jüdischstämmigen Mischpoke ist ihr keine große Stütze. Da wäre ihre resolute Großmutter, die sich bei jeder Gelegenheit nackt in Innenhöfen sonnt und deren Verhörmethoden nahelegen, dass sie früher in Ostberlin Nebenbeschäftigungen für Väterchen Staat nachgegangen ist. Oder ihr Vater, ein Journalist, der sie im Alter von neun Jahren verlassen hat, um fünf Jahre später mit einem weiteren Vater aufzutauchen und sich als homosexuell zu outen. Ihr pubertierender Halbbruder neigt dazu, es mit Zaubertricks zu übertreiben. Ihre fünfjährige Halbschwester entpuppt sich als weitere Dramaqueen. Von chronisch abgebrannten, zum radikalen Judentum übergetretenen, pseudo-spirituellen Lovern ihrer Mutter ganz zu schweigen…
In diesem abgedrehten Roman, der doch mitten aus dem Leben gegriffen wirkt, schreibt Nele Pollatschek aus dem eigenen Nähkästchen. Auch sie wurde in Ostberlin geboren, studierte in Oxford und Heidelberg. Auch sie stammt aus einer liberalen Familie und besuchte Schulen, in denen die Lehrer sie aufgefordert haben, besser zu demonstrieren, als in den Unterricht zu gehen. Sie kennt den Gegensatz zwischen Ost- und Westdeutschland und zwischen den Generationen. Denn die 1988 geborene Autorin sieht sich als Generation, die wieder in Richtung konservativ strebt. Wogegen noch protestieren? Das haben die Eltern schon getan.
Nele Pollatscheks Prosa hat Chuzpe! Ihre Pointen brettern wie Lachsalven auf den Leser nieder. Bei Streitgesprächen wird niemand verschont. Sie lässt ihre (Anti-) Helden aussprechen, was sich die meisten nicht mal zu denken trauen. Ihre Prosa ist frisch und klar, ihre Metaphern sind unkonventionell und doch treffsicher.
Fazit: Wer mit der eigenen Mischpoke hadert oder unter einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung leidet, wird sich nach der Lektüre dieses Buches garantiert besser fühlen. Alle anderen wissen ihre Allgemeinbildung erweitert, durch Ausführungen zu Themen wie „Was ist ein Manic-Pixie-Dream-Girl?“ oder „Welche Möglichkeiten bietet ein chrono-synklastisches Infundibulum?“ Durchgeknallt mit Geist und Witz – diese gewagte Mischung ist der Autorin gelungen!
Nele Pollatschek: Das Unglück anderer Leute.
Goldmann, März 2018.
224 Seiten, Taschenbuch, 10,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.