Sie sei die allerletzte Kaiserin von Österreich, beteuert die resolute, wenn auch steinalte Touristin, die eines Tages in dem Gasthaus in den Bergen auftaucht, das den Eltern der Ich-Erzählerin Claudia Hendl gehört. Sie erscheint dort nach ihrem ersten Besuch täglich, sitzt immer am selben Platz, isst jedes Mal dasselbe Menü und irgendwann erzählt sie der Wirtstochter ihre Geschichte. Und die hat es in sich. In ihrem Lebenslauf bildet sich die österreichische Politik und die Sozialgeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts ab. Johanna Fialla heißt die Dame, deren Großvater um 1900 in Wien eines der ersten Autohäuser betreibt.
Die Familie wohnt aus diesem Grund an einer der allerersten Adressen der Stadt an der noblen Ringstraße. Die Mutter ist verträumt und hält in ihrem Leben nach einem Ritter Ausschau, wie sie in den von ihr geliebten Romanen vorkommen. Auf einem Ball begegnet sie dem Kellner Johann Witz und folgt ihm in die Besenkammer.
Das Techtelmechtel hat Folgen und die Hauptfolge heißt Johanna. Ihre Eltern heiraten, die Mutter sieht sich sehr schnell ernüchtert und lässt sich scheiden, woraufhin sie die Familie in die Schweiz verfrachtet, frei nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Johanna bleibt in Wien, wächst bei den Großeltern, der Zwillingsschwester ihrer Mutter und deren Familie auf. Gelegentlich besucht sie ihren Vater in dessen Gemischtwarenhandlung. Im Hinterzimmer hängen große Porträts von Kronprinz Rudolf und seiner Geliebten Mary Vetsera.
Der habe sich nämlich gar nicht umgebracht, sondern sei mit Mary untergetaucht, folgert Johanna aus dem Schweigen und den blitzenden Blicken ihres Vaters. Er habe sich Johann Witz genannt. Sie ist sozusagen eine direkte Nachfahrin des Kaisers Franz Josef und seiner Sissi, ist Johanna überzeugt. Ihr Leben lang sucht sie nach Puzzlestücken, die ihre Theorie untermauern. Und immer wieder tauchen „Beweisstücke“ auf, die sowohl Claudia Hendl als auch den Leser mehrmals verdutzt mit der Frage zurücklassen: „Ja, könnte das am Ende alles wahr sein? Oder hat die gute Johanne Fialla sich das alles zusammengezimmert, um ‚etwas Besonderes‘ zu sein?“ Denn eines ist gewiss: Für Johanna geht es ihr Leben lang beständig bergab vom Ringstraßenpalais in eine Gemeindewohnung. Ist sie tatsächlich die allerletzte Kaiserin?
In humorigem Tonfall erzählt Irene Diwiak von Johanna Fialla. Plot Twists und „Beweisstücke“ lassen ihre Räuberpistole am Ende einigermaßen glaubwürdig dastehen. Eine allerletzte „Kaisertochter“ gab es tatsächlich schon einmal. Die „Zarentochter Anastasia“ geisterte sehr lange durch den Boulevard. Am Ende war sie aber dann doch nicht „echt“. Für jene, die sich mit den historischen Ereignissen im Hause Habsburg auskennen oder sich dafür interessieren, die ein Faible für Morbides haben oder schlichtweg für Leute, die gerne abstruse, gut erzählte Geschichten mögen, ist „Die allerletzte Kaiserin“ auf alle Fälle zu empfehlen.
Irene Diwiak: Die allerletzte Kaiserin.
C. Bertelsmann, April 2024.
303 Seiten, Hardcover, 22,70 €.
Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.