Hervé Le Tellier: Die Anomalie

Am 11. März 2021 gerät ein Flugzeug der Linie Air France auf seinem Weg von Paris nach New York kurz vor dem Ziel in einen schweren Gewitter- und Hagelsturm. Es gelingt dem Piloten, die Herrschaft über die Maschine zu behalten. Etwas angeschlagen landet sie schließlich auf dem Kennedy Airport.

Am 24. Juni 2021 befindet sich erneut ein Flugzeug der Linie Air France im Landeanflug auf New York. Der Pilot behauptet, soeben durch einen schweren Sturm geflogen zu sein. Nur, dass es an diesem Tag keinen Gewittersturm gab und die Maschine auch in keinem Flugplan vorgesehen ist. Sie wird von zwei Kampfflugzeugen zu einer Air Force Base in New Jersey eskortiert. Es stellt sich heraus, dass es sich um eine exakte Kopie der am 10. März gelandeten Maschine handelt. Der französische Autor Hervé Le Tellier beschreibt in seinem spannenden Roman die Folgen, welche ein solches Ereignis auslösen könnte.

In alle Eile werden zunächst Experten zusammengetrommelt, sie sollen eine Erklärung dafür finden, dass ein nahezu identisches Flugzeug mit genetisch identischen Passagieren und Crewmitgliedern auftaucht. Le Tellier lässt Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete die verrücktesten Theorien entwickeln.

Vor allem aber beschäftigt er sich mit den Menschen, die jetzt einen Doppelgänger haben. Im Fokus stehen eine Anwältin, ein Architekt und seine Geliebte, ein Schriftsteller, eine Mutter mit zwei Kindern, ein Popstar, ein Auftragskiller und der Pilot. Der Autor schildert zunächst ihr Leben in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Landung. Er erlaubt dem Leser Einblicke in intime Gedanken und Hoffnungen. Für jeden der Betroffenen hält das Leben gerade wichtige Veränderungen bereit.

Richtig spannend wird es, als die Protagonisten schließlich auf ihre Doppelgänger treffen und damit konfrontiert sind, sich tatsächlich von außen zu sehen und beurteilen zu können. Der Umgang damit reicht von pragmatisch bis emotional, im Positiven wie im Negativen. Manche Reaktionen erscheinen folgerichtig, andere sind überraschend und erschließen sich dennoch aus dem Geschehen. Für einige der Beteiligten eröffnen sich neue Möglichkeiten, Entscheidungen lassen sich vielleicht anders fällen.

Hervé Le Tellier beschreibt zudem die Reaktionen der Gesellschaft, angefangen mit den Auftritten von Politikern bis hin zu religiösen Fanatikern. Im Großen wie im Kleinen werden Gewissheiten in Frage gestellt.

Ich habe das Buch, das Elemente von Thriller, Drama und Parodie enthält, in einem Zug gelesen. Es ist ein spannendes Gedankenexperiment und gleichzeitig ein Kaleidoskop, zusammengesetzt aus Einzelschicksalen und Einzelentscheidungen, welche ein buntes und stimmiges Gesamtbild ergeben. So wie jeder Doppelgänger in seinem Gegenüber einen Spiegel seiner selbst findet, hat Hervé Le Tellier unserem Selbstverständnis einen Spiegel vorgehalten.

Hervé Le Tellier: Die Anomalie.
Aus dem Französischen übersetzt von Romy Ritte & Jürgen Ritte.
Rowohlt, August 2021.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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