Garry Disher: Stunde der Flut

Wer bereits das Vergnügen hatte, etwas von Garry Disher zu lesen, der ahnt, wie sich die Suche nach Verbrechern in der heißen australischen Landschaft anfühlen könnte. Wenn seine Ermittler zwischendurch versuchen, nassgeschwitzt in Shorts und T-Shirt ihr Privatleben im Griff zu behalten, sofern es überhaupt schon im Griff ist, dann spürt man bei der Lektüre fast schon den heißen Wind auf den spröden Lippen.

Im Prinzip sind Garry Dishers ermittelnde Polizisten immer im Einsatz, denn sie können nicht abschalten. Sie sind aus den unterschiedlichsten Gründen Getriebene. In seinem Kriminalroman Stunde der Flut steht der Polizist Charles Deravin im Fokus. Gerade spürt er die Folgen seiner Handgreiflichkeit gegenüber seinem Chef, der einem Vergewaltiger einen Freibrief geben will. Während seiner Suspendierung muss Charlie zu einer Psychologin und seine ungewohnte Freizeit mit neuem Leben füllen. Wie lange das Disziplinarverfahren gegen ihn laufen wird, steht in den Sternen. Was ebenfalls in den Sternen steht, ist, warum seine Mutter vor zwanzig Jahren aus dem trostlosen Menlo Beach spurlos verschwand und dies ausgerechnet aus einer Gegend, in der viele Polizisten wohnen. Damals hielt jeder seinen Vater, der ebenfalls Polizist war, für den mutmaßlichen Mörder. Doch ohne Leiche und mit einer Handvoll Indizien kann der Fall nicht abgeschlossen werden.

Zwanzig Jahre sucht Charlie wie besessen nach dem untergetauchten, ehemaligen Untermieter seiner Mutter. Und nachdem er ihn dann endlich gefunden hat, werden kurz darauf zwei Skelette dort ausgegraben, wo früher seine Mutter lebte. Noch einmal kommen die Ermittler, um jedes Detail des Falles zu begutachten. Dass Charlie auf eigene Faust ermittelt, sorgt sowohl unter seinen aktuellen als auch früheren Kollegen für Missbilligung.

Garry Disher wurde im ländlichen Südaustralien geboren. Seine Kriminalromane wurden unter anderem für den Booker Prize, den australischen und deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Sein Erzählstil ist ruhig. Hektik und aufgebauschte Dramatik wollen einfach nicht zu dem heißen Klima passen. Trotzdem geschehen in der Weite der Landschaft Verbrechen, die an Brutalität und Skrupellosigkeit kaum zu unterbieten sind. Die Dynamik der Geschichte könnte man mit einem in Bewegung geratenen Stein vergleichen, der einen Abhang sanft hinunter rollt. Verschiedene Hindernisse touchierend kommt er dem Abgrund stetig näher. Ob er hinab stürzt oder nicht, obliegt dem Zufall. Auch Charlie nähert sich seinem persönlichen Abgrund. Während sogar sein älterer Bruder den Vater für einen Mörder hält und dieser wiederum ständig mit Drohbriefen zu dem überfälligen Geständnis aufgefordert wird, steht Charlie vor zerrissenen Familienbanden. Sogar seine eigene Familie ging an den Folgen seiner Suche zugrunde.

Wer sein halbes Leben mit Hindernissen und der bohrenden Ungewissheit lebt, kann in seiner eigenen Wahrnehmung betriebsblind werden. Charles Gerechtigkeitssinn schlägt viel zu selten Alarm und wenn doch, dann wird es ziemlich ernst. Erst recht, wenn er es mit dem organisierten Verbrechen zu tun.

Die Übersetzung des extrem kurzweiligen Kriminalromans schrieb Peter Torberg.

Garry Disher: Stunde der Flut.
Aus dem Englischen übersetzt von Peter Torberg.
Unionsverlag, Juli 2022.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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