Ihren Roman „Wir sind doch Schwestern“ habe ich sehr gemocht. Er hatte Tiefgang, die Figuren waren authentisch, nachvollziehbar. Das kann man leider von dem neuen Roman von Anne Gesthuysen nicht sagen.
Dennoch habe ich ihn verschlungen, denn unterhaltsam ist er gleichwohl. Doch bleibt er durchweg seicht, auf Groschenheft-Niveau. Das liegt nicht nur an den adeligen Protagonisten, die wie aus der Zeit gefallen wirken. Die Figuren sind oberflächlich, flach, ohne Kontur, ohne Profil. Sie wirken wie fehlbesetzte Schauspieler, die mit ihrer Rolle fremdeln.
Worum geht es: Anna von Betteray ist frisch angekommen in einer Kleinstadt am Niederrhein, übernimmt dort vertretungsweise die Stelle des Pfarrers. Die Gemeinde macht es ihr nicht leicht, ihr, der jungen Frau, die den alten beliebten Pfarrer ersetzen soll. Viele dichten ihr alle möglichen und unmöglichen Geschichten an, die Gerüchteküche im Ort brodelt.
Das insbesondere, als ihre Schwester Marie in dramatische Ereignisse verwickelt wird. Ihr Mann wird wegen Cum-Ex-Geschäften verhaftet und viele weitere böse Geheimnisse werden aufgedeckt. Dazwischen agieren noch die dünkelhafte Mutter von Anna und Marie sowie die allwissende 90-jährige Großtante. Und selbstredend tauchen auch noch attraktive Kommissare, Tischler und andere Figuren auf.
Die Spannung steigt (oder vielmehr soll steigen), als Maries 11-jähriger Sohn Sascha verschwindet. Ab hier wird es ziemlich absurd, denn schon von Anfang an kann man als Leserin ahnen, was dahinter steckt. Aber nein, die Figuren glauben an eine Entführung, der Kommissar glaubt, die Familie sei darin verwickelt. Nun beginnt ein hektisches Agieren. Vor allem Anna fährt ständig von A nach B und weiter nach C, nur um dann sofort wieder nach A zu sausen.
Bei all dem bleiben, wie gesagt, die Figuren Abziehbilder, die Dialoge sind leblos, der Humor bemüht, die Klatschgeschichten, die sich die Bewohner über Anna ausdenken, absurd und unpassend für die heutige Zeit. Der Hintergrund der Protagonistinnen Anna und Marie wird nur angerissen, nichts wird zu Ende gedacht. Anna hatte vor einiger Zeit ein sehr schreckliches Erlebnis, das immer mal wieder angedeutet wird. Aber es wird nicht wirklich abgehandelt, es bleibt offen, welchen Zusammenhang es zur aktuellen Handlung gibt. Überhaupt ist Anna in meinen Augen zu sehr Dulderin, zu geduldig, zu harmonisch, ihrer Figur fehlen Ecken und Kanten. Seit ihrer Kindheit, in der sie ein Wildfang und rebellisch war, liegt sie im Streit mit ihrer Schwester. Diese kritisiert ständig an Anna herum, macht sie für alles schuldig, lästert und ist gemein. Aber Anna widerspricht nie, widersetzt sich nie, schweigt, hilft trotzdem. Das ist mir alles zu lieb, zu unrealistisch. Aus der ganzen Lebensgeschichte der Figur erklärt sich das nicht, im Gegenteil, man würde anderes Verhalten erwarten. Im Grunde sind alle Verhaltensweisen der Figuren wenig schlüssig.
Dabei gäbe es viel Raum für Entwicklung, für Konflikt. Wird doch in den Plot alles Mögliche hineingepackt: Gewalt gegen Frauen, Homophobie, Cum-Ex, Standesunterschiede und vieles mehr. Und schließlich das Ende ist über alle Maßen rührselig, ist mir zu sehr heile Welt. Auch der Stil von Anne Gesthuysen tröstet nicht über die flache Handlung hinweg. Er ist locker zu lesen, keine Frage, nicht umsonst habe ich den Roman binnen weniger Stunden gelesen. Aber er ist einfach, simpel, es gibt keine Finessen, keine Highlights in Formulierungen.
Mein Fazit: ein seichter Unterhaltungsroman für Leserinnen, die keine hohen Ansprüche stellen.
Anne Gesthuysen: Wir sind schließlich wer.
Kiepenheuer&Witsch, November 2021.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.