Andrea Barrett: Die Reise der Narwhal

Vor einigen Jahren bereiste der berühmte Kapitän John Franklin mit seiner Mannschaft den unerforschten Norden, ohne dass ihm 1847 eine Rückkehr gelang. Auch noch 1855 versucht seine Witwe über öffentliche Aufrufe, jemanden zu finden, der den vergeblichen Suchaktionen ein Ende setzt. Inzwischen ist das öffentliche Interesse so groß, dass der Überbringer von eindeutigen Informationen über Franklins Verbleib Geld und Ruhm gewinnen wird.

Auf einer Feier, bei der Erasmus Wells glaubt, dass Zeke offiziell die Verlobung mit seiner Schwester verkünden will, berichtet dieser stattdessen über seine baldige Expedition in die Arktis. Er sei derjenige, der Franklin finden wird. Und während Erasmus die schockierende Nachricht noch verdaut, bietet ihm Zeke einen Platz als seine rechte Hand auf der Narwhal an. Er brauche dringend Erasmus‘ Fachwissen, das er als Naturforscher in der Arktis gewonnen habe. Eigentlich will Erasmus ablehnen. Zu viele schlechte Erfahrungen nagen an ihm. Nur die Bitte seiner Schwester, auf den jüngeren, unerfahrenen Zeke aufzupassen und ihn zurückzubringen, zwingt ihn zu einem Umlenken. Erasmus redet sich die Wendung schön. Doch die zweite Chance, als Forscher Anerkennung zu gewinnen, entwickelt sich ganz anders. Seine Reise führt ihn ins Ungewisse.

„Hinter einer wabernden Wolke aus gefrorenem Dunst sah Erasmus den Vollmond schimmern. Das Thermometer zeigte minus zwölf Grad Celsius, dann minus zwanzig, dann minus fünfundzwanzig; kalte Hände, kalte Füße, gegen den Wind gekrümmte Schultern.“ (S. 177)

Die in Boston geborene Andrea Barrett studierte Zoologie und lehrt an zwei Colleges. In der Vergangenheit wurde sie für ihre schriftstellerischen Werke mehrfach ausgezeichnet. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999. Zum Glück hat der Unionsverlag diesen einfühlsam erzählten Roman neu aufgelegt. Aus dem Englischen wurde Erasmus Geschichte von Karen Nölle übersetzt, die dem sprachlich herausragenden Meisterwerk neues Leben einhaucht. Gekonnt und nuanciert agieren Andrea Barretts fiktive Charaktere vor einem geschichtlichen Hintergrund. Wunderbar ausgearbeitet werden auch die Motive der Nebenfiguren und geben damit den anstehenden Konflikten ein breites Fundament. Gleichzeitig schenkt die Autorin ihrem Roman eine moderne Note, indem sie den Frauen Raum für deren Sehnsüchte nach Unabhängigkeit und Freiheit lässt.

Ihre Antihelden nehmen ihren eigenen tödlichen Ausgang billigend in Kauf und gehen für Ruhm und Geld völlig selbstverständlich über Leichen. Natürlich verschärfen sich in der Not schwelende Konflikte. Erst recht, wenn es um das nackte Überleben geht.

In einem Zitat beschreibt der Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817-1862), dass ausgedehnte Reisen nicht automatisch ertragreich seien: „Angefangen damit, dass die Schuhsohlen dünn und die Füße wund werden, ist bald der ganze Mann verschlissen und obendrein sein Herz wund. Meinen Beobachtungen zufolge fristen Vielgereiste hinterher ein armseliges Dasein.“ (S. 214)

Die Reise der Narwhal wird zu einer unvergesslichen Lesereise, an deren Ende das tiefe Bedauern über das Ende der Lektüre und der Wunsch noch weiter lesen zu wollen, im Kopf bleiben.

Andrea Barrett: Die Reise der Narwhal.
Aus dem Englischen übersetzt von Karen Nölle.
Unionsverlag, Juli 2021.
480 Seiten, Taschenbuch, 14,95 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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