Siân James: Ein Nachmittag im Mai

Die Waliserin Siân James (1930-2021) veröffentlichte 1975 ihr preisgekröntes Erstlingswerk, den Roman Ein Nachmittag im Mai. Darin geht es um die sechsunddreißigjährige Anna. Sie ist seit vier Jahren Witwe, Mutter von drei Töchtern und lebt in der walisischen Countryside. Seit dem Tod ihres Mannes Giles steht sie in einer Art Sackgasse. Nur mit viel Mühe kann sie aus den Einkünften eines kleinen Vermögens ihre Familie finanzieren. Und seit die Jüngste das Schulalter erreicht hat, glaubt sie an einen Ausweg: Sie will im kommenden Herbstsemester ihr Studium wieder aufnehmen. Es wird Zeit nach vorn zu schauen, denkt Anna. Als Lehrerin kann sie ihr eigenes Geld verdienen und damit leichter Rechnungen bezahlen.

An einem Tag im Mai geraten Annas Pläne und Gedanken durcheinander, als sie dem gutaussehenden Schauspieler Charlie wieder begegnet. Der jüngere Mann küsst sie spontan und ausgiebig bei der Begrüßung, als wären sie bereits ein Liebespaar. Auch sonst sind seine Umgangsformen einnehmend.

Die Autorin hat für ihren romantischen Roman die Ich-Perspektive gewählt. Von Anfang an ist Anna sehr präsent und sympathisch. Denn sie vertritt eine moderne Vorstellung von Selbstbestimmung, während ihr Umfeld von verkrusteten Rollenbildern geprägt ist. Das Bild vom starken, selbstbewussten Mann, der die schutzbedürftige, zarte Frau vor den Unwägbarkeiten des Lebens rettet, passt nicht mehr zu ihrer aktuellen Situation. Auch Charlie, ein bekannter Schauspieler, passt nicht so recht in das Bild. Der wesentlich jüngere Mann drängt sich mit einer Selbstverständlichkeit in Annas Bett und Haus, als könne er jede Frau auf diese Weise erobern. Doch er kommt, um kurz danach wieder zum Theater oder zu Filmaufnahmen zu eilen. Mitunter trägt er bei seiner nächtlichen Heimkehr das Parfüm einer anderen Frau auf der Haut, oder er schläft irgendwo anders. Und trotzdem genießt Anna seine Leidenschaft. Im übertragenen Sinne hat Charlie der Liebhaber Anna wachgeküsst. Und Anna, das ehemalige Dornröschen, verlangt nun mehr vom Leben. Sie entwickelt neue Wünsche.

Der Roman, der zeitlich auf ein Jahr begrenzt ist, entfaltet Annas Geschichte in zwei gleichberechtigte Teile. Der erste Teil beschreibt ihre Erfahrungen mit Charlie und im zweiten, wie es ohne ihn weitergeht. Die Autorin zeigt damit sehr deutlich, dass ihre Heldin nicht mehr die Frau des bekannten Giles Goodhart oder eine Geliebte des erfolgreichen Schauspielers Charlie ist. Sie ist Anna, eine erwachsene Frau mit eigenen Vorstellungen und eigenem Willen, um für ihre Mädchen ein Vorbild zu sein. Aus diesem Grund bricht sie ganz bewusst mit den Konventionen.

Besonders die Szene bei ihrem Arzt bleibt im Gedächtnis haften: Anna erinnert ihn an die Überweisung zu einer Kollegin, die ihr daraufhin eine Spirale eingesetzt hat. Es habe nicht funktioniert, erklärt sie ihm. Auf seine irritierte Nachfrage hin wird Anna deutlicher und sagt, sie sei schwanger.

Alleinstehende Frauen hatten es auch in den 1970-ger Jahren nicht leicht. Sie wurden von vielen Ehefrauen als mögliche Konkurrentin angesehen, während viele Männer alleinstehende Frauen eher als Freiwild betrachteten. Und wenn ein uneheliches Kind neben drei Halbwaisen auftaucht, ist das Ansehen einer solchen Frau mindestens angeschlagen.

Die Autorin hat für Anna einen modernen, einen emanzipierten Weg geöffnet, weil die Zeit hierfür reif ist. Sie lässt Anna erklären, sie wolle in Zukunft keine vernünftige Ehe, sie wolle echte Gefühle und Liebe in ihrem Leben.

Siân James: Ein Nachmittag im Mai: rororo Entdeckungen, Band 9
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Längsfeld
Herausgegeben von Magda Birkmann, Nicole Seifert
Mit einem Nachwort von Nicole Seifert
Rowohlt Taschenbuch, Januar 2025
288 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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