Lutz Seilers „Kruso“ gilt als einer der Favoriten für den Deutschen Buchpreis 2014, der am 6. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse vergeben wird. Und in der Tat entwickelt der Text in seinen besten Momenten eine Art magische Anziehungskraft, der man sich schwer entziehen kann. Anderes dagegen ist weniger positiv.
Der Roman ist aus der Sicht des psychisch labilen, selbstmordgefährdeten Germanistik-Studenten Edgar Bendler geschrieben, der im Sommer 1989 von Halle an der Saale nach Hiddensee reist, um den Tod seiner Freundin zu verdauen. Dort findet er in der Gaststätte „Zum Klausner“ eine Anstellung als Abwäscher. Sein charismatischer Mitarbeiter Kruso hat auf der Insel so etwas wie eine Auffangstation für alle Schiffbrüchigen errichtet, womit jene gemeint sind, die auf irgendeine Weise im DDR-Regime angeeckt sind oder das Land verlassen wollen. Zusammen mit den Esskaas der Insel – den Saisonkräften – gewährt er ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit und eine Mahlzeit. Anklänge an religiöse Motive aus dem Christentum (Die Speisung der Fünftausend) sind gewollt. Wenn Kruso mit den anderen Mitarbeitern des Klausners am Personaltisch sitzt, hat das etwas von Jesus und seinen Jüngern beim letzten Abendmahl. Manches erinnert auch an die eingeschworene Gemeinschaft der Lehrlinge in der Zaubermühle von Krabat.
Immer schwingt auch ein ganzer Kanon von Subtext, anderen Bedeutungen und Nebenhandlungssträngen mit, was gelegentlich etwas überladen wirkt und den Fortgang der Handlung zäh werden lässt: So zitieren Ed und Kruso, zwischen denen sich schon bald eine innige Freundschaft mit homoerotischen Anklängen entwickelt, permanent Trakl-Gedichte, während das nicht mehr ausschaltbare Radio namens Viola die unbeachteten Meldungen vom langsamen Untergang der DDR bringt. Präsent sind auch immer die Toten, die vergeblich versucht haben, von Hiddensee nach Dänemark zu schwimmen. In einem Epilog macht sich Edgar Jahre nach diesen Geschehnissen auf den Weg nach Dänemark, um in Archiven etwas über diese Toten zu erfahren.
Als störend erweist sich auf Dauer das jegliche Fehlen von Humor und einer irgendwie gearteten Leichtigkeit. Alles ist schwer, bierernst und durchzogen von einer gewissen Griesgrämigkeit. Weil aus allem, selbst aus dem Abwasch des Geschirrs, Rituale gemacht werden, erinnert die gesamte Konstellation im Klausner bald an eine Sekte. Esskaas, Schiffbrüchige und vor allem Ed folgen ihrem Führer Kruso in einer Art schwer nachvollziehbarem Kadavergehorsam nahezu blind. Überhaupt bleiben dem Leser die Figuren trotz der Fülle des Textes von fast 500 Seiten seltsam fremd und unnahbar. Auch als Identifikationsfigur taugt niemand.
Fazit: ein schwergängiger Text mit starken Momenten.
Auffällig ist einmal mehr die Diskrepanz zwischen den geradezu hymnisch-enthusiastischen Rezensionen in den überregionalen Feuilletons und den viel verhalteneren Lesermeinungen auf Amazon. Ich bin sehr froh, dass es die Amazon-Stimmen als eine Art Gegenkultur gibt.
Lutz Seiler: Kruso.
Suhrkamp, September 2014.
484 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,95 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.