Kent Haruf: Kostbare Tage

Wenn man erfährt, dass die Lebenszeit bald abgelaufen sein wird, ist jeder einzelne Tag kostbar. So ergeht es Dad Lewis, nachdem er von seiner Krebsdiagnose im Krankenhaus erfahren hat. Sein Lebensbereich liegt in der Kleinstadt Holt, die den LeserInnen, die Kent Harufs vorangegangene Romane bereits kennen, bestens bekannt ist. Holt liegt im Mittleren Westen der USA, im Bundesstaat Colorado. – Kein Ort, in dem Fremde länger verweilen wollen. Im Gegensatz zur nächstgelegenen Metropole Denver scheint die Zeit dort stehen geblieben zu sein. Das Leben ist provinziell und einfach geprägt und plätschert ohne Hektik vor sich hin.

Die Ruhe, die über Land und Menschen liegt, entspringt gleichsam dem bedächtig fließenden Schreibstil Kent Harufs. Er zeigt die  ländliche Idylle in warmen Farben auf, beschreibt auch schlichte Gesten und Rituale so, dass große Bilder daraus entstehen.

Dad Lewis‘ Frau Mary und seine Tochter Lorraine pflegen und kümmern sich liebevoll um den 77jährigen Ehemann und Vater. Frank, der homosexuelle Sohn bleibt dem Elternhaus fern. Schon lange hat er den Kontakt zu den Eltern abgebrochen und eine Wunde hinterlassen. Frank passte weder in die geordnete Lebensstruktur von Dad Lewis noch in die von Holt.

Im Nachbarhaus von Dad Lewis wohnt die kleine Alice bei ihrer Großmutter. Mit ihrer Figur zeigt Haruf den Gegensatz vom jungen Mädchen, das ihr Leben noch vor sich hat und noch am Lernen und Begreifen ist, zu dem alten Mann auf, der an seinem Lebensende angekommen ist.

In seinem Beruf als Eisenwarenhändler hatte Dad Lewis einen guten Draht zu seinen Kunden, denen er entgegenkommend gegenübertrat.

Im Wissen um den nahenden Tod muss Dad Lewis nun noch einige Dinge in seinem Leben ordnen und gedanklich klären, was ihm nicht mehr so leicht fällt. Seine einstige Flexibilität ist ins Stocken geraten. So bleibt Manches unausgesprochen und unerledigt.

LeserInnen, denen die beiden alten McPheron-Brüder und ihre Farm aus „Lied der Weite“ noch in Erinnerung sind, werden sich freuen, dass auch in Dad Lewis‘ Geschichte dieses altbekannte Terrain nochmals auftaucht.

Die andauernde Sommerhitze dämpft und lähmt das Geschehen in Holt durch den gesamten Plot. Das Sterben des alten Mannes mit Trauer und Abschiedsschmerz quält sich durch die Schwüle und drückt auf das Gemüt. Und dann verschwindet an seinem Todestag auch noch das Nachbarmädchen Alice.

Passend zum Tod und Abschied lässt der Autor am Ende nächtliche Stürme und drei Tage anhaltende Blizzards über die Hochebene von Holt brausen.

Kent Harufs Prosa beschäftigt sich mit der Schuld und Ungelöstem. Positives und Schönes ist dabei stets mit Melancholie verbunden, was dem Text Tiefe verleiht.

Kent Haruf: Kostbare Tage.
Diogenes, Mai 2020.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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