Judith W. Taschler: Über Carl reden wir morgen

Ich mag Familienepen über mehrere Generationen sehr und ich mag die Bücher von Judith W. Taschler. Also war es keine Frage, dass ich auch ihren neuesten Roman unbedingt lesen wollte. Und ich habe es keineswegs bereut.

Sie erzählt die Geschichte der Familie Brugger, die im österreichischen Mühlviertel in einem kleinen Ort die Mühle betreibt. Beginnend im frühen 19. Jahrhundert verfolgt die Autorin die Geschicke der Familie über mehr als 100 Jahre.

Dabei verfährt sie nicht unbedingt streng chronologisch, sondern folgt eher einzelnen Erzählsträngen, angelehnt an die Perspektive einzelner Familienmitglieder. So erfährt man im einen Strang angedeutete Ereignisse erst später dann im Detail.

Die ersten Protagonisten sind Anton Brugger und seine Schwester Rosa. Sie folgt den Versprechungen einer Anwerberin und gelangt als Hausmädchen nach Wien. Es kommt, wie es kommen muss. Sie erlebt dort Ausbeutung und Misshandlung, muss ihr Kind weggeben. Erst nach vielen Jahren kehrt sie zurück zur Familie, übernimmt nach dem Tod ihrer Schwägerin die Betreuung der Kinder ihres Bruders.

Albert, der Sohn, der die Mühle übernimmt, erweist sich als guter Geschäftsmann und etabliert die Familie mittels eines Warenhandels. Er ist ein friedliebender und sehr aufgeschlossener und vielseitig interessierter Mann, der Unterdrückung und Gewalt ablehnt. Insbesondere in den Auseinandersetzungen mit einem missgünstigen Nachbarn zeigen sich die Eigenschaften.

In vielen Episoden erleben wir die Geschichten der Familie, sei es das Schicksal von Antons Frau Anna oder die Geschicke von Rosas Familienzweig. Dabei werden auch die historischen Ereignisse erwähnt, die Figuren darin eingebunden.

In kraftvollen Bildern, lebensnahen Schilderungen erstellt Judith W. Taschler das Sittengemälde einer österreichischen Sippe, lakonisch, lapidar, mit leichter Distanz, aber nicht ohne Empathie. Näher heran rückt sie ihren Blick dann in der letzten Generation, den Kindern von Albert und Anna. Wir folgen Carl in die Schützengräben des ersten Weltkriegs, Eugen, seinem Zwillingsbruder, auf seinem unsteten Leben in Amerika. Die Spannung steigt, als beide nach diesem Krieg in der Mühle zusammentreffen und es etliche gefährliche Situationen gibt.

Viele dieser Porträts und Geschichten der Familienmitglieder werden nur angerissen, werden nicht zu Ende erzählt, Schicksale bleiben ungeklärt, Fäden lose hängen. Die Autorin, die nicht leugnet, in diesem Roman durchaus auch Parallelen zu ihrer eigenen Familiengeschichte verarbeitet zu haben, deutet in einem Gespräch an, dass sie nicht abgeneigt ist, eine Fortsetzung zu schreiben, um diese Geschichten abzuschließen. Darauf freue ich mich schon jetzt.

Judith W. Taschler: Über Carl reden wir morgen.
Paul Zsolnay Verlag, April 2022.
464 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.