Joseph Conrad: Herz der Finsternis (1899)

Des Menschen Gier ist unersättlich. Davon zeugt diese 1899 erstmals erschienene und nun bei Diogenes deluxe Verlag neu aufgelegte Geschichte von Joseph Conrad. Forscher, Goldsucher, Händler, Abenteurer – im Text beschönigend als „Pilger“ bezeichnet – ziehen in die Schwärze des afrikanischen Kontinents, immer weiter am Fluss Kongo entlang. Dort bringen sie nicht etwa den vermeintlichen Fortschritt, sondern schröpfen den Kontinent bis aufs Blut. Von Bodenschätzen über Elfenbein bis hin zu den Menschen, den Sklaven. Entrechtet, ausgebeutet, gefoltert, getötet: Diese von Conrad beschriebenen Szenen wirken bisweilen wie ein Fiebertraum, wie ein Delirium, erschreckend nah und distanziert-abgeklärt zugleich.

Ein paar Freunde mit der Liebe zur See, machen einen Ausflug auf den beschaulichen Wassern der Themse. Einer von Ihnen, Marlow, berichtet von seiner Fahrt als Kapitän auf dem Kongo. Zunächst beginnt seine Geschichte noch wie ein typisches Abenteuer: „Goldsucher und Ruhmsüchtige, alles waren sie auf diesem Strom in die Ferne gefahren, mit dem Schwert in der Hand und oft mit der Fackel der Aufklärung. Boten der Macht des zurückgelassenen Lands, Träger eines Funken der heiligen Flamme. (…) Die Träume der Menschen, das Saatgut neuer Staaten, die Keime von Weltreichen.“(S. 11) So die Lesart der zivilisierten Welt. Doch zeigt sich schnell, was unter dem dünnen Firnis des Fortschritts brodelt. So kommen Zuhörer und Leser nicht umhin, sich zu fragen, wer denn nun wirklich die „Wilden“ sind.

Ein literarischer Fiebertraum im Herzen Afrikas
Marlow trifft ein korrumpiertes, gieriges und moralisch verfallenes Konglomerat aus Händlern und Abenteurern vor. Jeder möchte sich nur selbst bereichern. Marlow erhält den Auftrag, nach dem Händler Kurtz zu suchen, der es zu legendärem Ruhm gebracht hat. Keiner liefere mehr Elfenbein als er, was manch anderen ein Dorn im Auge ist. Während die einen ihn verehren, glauben die anderen, er sei dem Wahnsinn, dem Mord durch Eingeborene oder einer Krankheit zum Opfer gefallen. Als Marlow Kurtz endlich vorfindet, befindet er sich körperlich und geistig in einem schlechten Zustand. War Kurtz ein großer Mann, dessen Herz von der Finsternis des Kongo vereinnahmt wurde? Oder war er schon immer ein größenwahnsinniger Despot gewesen, der abseits der Zivilisation seine niedersten Triebe auslebte, indem er zum Beispiel die Köpfe von Schwarzen zur Abschreckung auf Zaunpfählen aufspießen ließ?

Wirklichkeit und Wahn, Utopie und Dystopie, Mensch und Natur, Herren und Sklaven – all dies verschwimmt in Conrads Prosa zu einem klaustrophobischen Wachtraum. Viele Ansätze in diesem knapp 200 Seiten kurzen Roman, beruhen auf den autobiografischen Erfahrungen des Autors. Joseph Conrad hatte den Kongo selbst bereist und wäre dabei fast gestorben. Gesundheitliche Spätfolgen hat er zeitlebens davon zurückbehalten.

Informatives Nachwort mit mehreren Deutungsebenen
Äußerst lehrreich ist das Nachwort von Übersetzer Urs Widmer, der zu gleich mehreren Interpretationsebenen ansetzt. Neben dem autobiografischen Ansatz, lässt sich Conrads Prosa auch als Reise zurück zu den Ursprüngen der Zeit verstehen, als Mensch und Natur einander noch nicht entfremdet waren. Sogar eine sexuelle Deutungsebene wird hier eingeflochten – Freud lässt grüßen!

Erschreckende Szenen wie im „Totenhain“, in welchem ausgemergelte Sklaven zum Sterben zurückgelassen werden, wechseln sich mit archetypischen Szenen ab. Szenen, in denen das Herz der Finsternis, der Schoß des Lebens, die Urgewalt der Natur hinter den undurchdringlichen Ufern des Kongo lauert, schlummert, eruptiert. Ein Buch das Unbehagen auslöst – und das muss es auch. Sogar rund 125 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung.

Joseph Conrad: Herz der Finsternis.
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Urs Widmer .
Diogenes Deluxe, Juni 2024.
256 Seiten, gebundene Ausgabe, 15,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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