Es ist immer wieder schön in unserer zur Zeit überdynamisierenden Welt, in der Grundfesten sich erschüttern, humanistische Ideale verfliegen und es manchmal zu schwer wird, den Kopf über Wasser zu halten, Romane gibt, die völlig aus eben dieser schwierigen Welt gefallen scheinen und wie Märchen daherkommen. Die Sehnsucht des Vorlesers erfüllt genau die Sehnsucht des Literaturfreundes nach Wärme in den Dingen und den zwischenmenschlichen Beziehungen. Und wenn am Ende des Buches NICHT steht „…und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…“, so wird es sich jeder als Abschluss beim Weglegen des Buches denken. Die Geschichte beginnt schon fast wie ein Gleichnis. In der Fabrik, in der Guylain Vignolles arbeitet, werden Bücher wieder zur Zellulose, also recycelt. An sich nichts Dramatisches und eher ein guter Umgang mit Wert- oder Werkstoff. Aber Guylain ist ein fanatischer Leser und würde am liebsten jedes einzelne Blatt, unabhängig vom Inhalt, vor der Zerstörung durch die Maschine, ein Ungeheuer namens „Zerstörer 500“ erbaut von der Firma Kraft, (das hat schon was von Bücherverbrennung) retten. Das Buch als Weltwissen, als Alles-Sammlung von Bildung, Unterhaltung, Menschsein, etc. … wird vernichtet und Guylain Vignolles bedient die Maschine. Am Ende der Schicht rettet er ein paar Seiten die sich seitlich der immensen Walzen erhalten haben und liest diese, seitenweise und zusammenhanglos, auf seinem Weg zur Arbeit am frühen Morgen den anderen Fahrgästen vor. Dieses Ritual hat sich eingepegelt und gehört zu den schönen Dingen des Tages. Es gesellt sich eine andere bizarre Geschichte dazu: ein ehemaliger Kollege und Freund von Guylan, hat bei der abendlichen Reinigung der riesigen Walzen, beide Beine verloren, weil -durch einen Wackelkontakt- die Walzen plötzlich ansprangen. Ohne Beine aber mit dem unbedingten Willen, seine verlorenen Gliedmaßen zumindest übersinnlich wieder zu bekommen, sammelt er jetzt die Bücher, die aus dem Zellulosematsch gedruckt wurden. Ein Gartenbuch mit 1500 Auflage. Im Buch sind wir bei etwa 750 Gesammelten angelangt. Also die Hälfte seiner Beine hat er wieder. Eines Tages findet Guylan auf seinem Platz im Zug einen USB Stick. Es entpuppt (bzw. er findet darauf) sich eine Art Tagebuch einer jungen Toilettenfrau in einem Einkaufcenter. Fortan versucht Guylan diese Frau zu finden. Es ist müßig jetzt weiter den Inhalt zu beschreiben, denn ein Märchen sollte nicht kritisiert werden, oder sich in einer profanen Inhaltsangabe verlieren. Bitte selber lesen und sich freuen, dass es sich lohnt, weiter nach solchen Perlen zu tauchen!
Jean-Paul Didierlaurent: Die Sehnsucht des Vorlesers.
dtv, September 2015.
224 Seiten, Taschenbuch, 14,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Fred Ape.