Das Lager in der Einsamkeit hätte eine Zuflucht für Außenseiter werden können, insbesondere für Menschen ohne Ausbildung und Perspektive. Doch der Drogenboss Tim hatte seine eigenen Pläne, als ihm die Aufsicht über das ehemalige Pfadfinder-Lager in Oklahoma übertragen wurde. Weit weg von allem lebte er dort mit einer wilden Gruppe von Außenseitern. Sie hingen ab, soffen, nahmen Drogen, fuhren mit ihren Bikes durch die Gegend, und immer wieder wurden in der Scheune Drogen gekocht.
So sah das Leben von Ernie, Coral, Staci und Ray unter Tims „Herrschaft“ aus. Jeden Tag arrangierten sie sich irgendwie, waren irgendwie unglücklich und hatten keine Idee, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
Die Chance zu einer Veränderung schenkt ihnen der Zufall, als in ihrer Abwesenheit Chemikalien in der Scheune explodieren und alles in Brand setzen. Bei ihrer Rückkehr mit einem Rucksack voll mit Drogengeld sehen die Vier von weitem den verheerenden Brand. Auf dem Gelände laufen Polizisten und Feuerwehrleute herum. Die Vier flüchten vor ihrer Inhaftierung. Nach ein paar Tagen landen sie auf einer heruntergekommenen Ranch in Texas. Wie soll es nun weiter gehen? Tim will das Drogengeld, und sie haben keine Idee, wovon sie leben wollen.
Die in New York geborene Autorin Jardine Libaire lebt heute in Austin, Texas, wo sie unter anderem ehrenamtlich für ein Hilfsprogramm für Frauen im Gefängnis arbeitet. Sie kennt aus zahlreichen Begegnungen, wie Frauen in Not geraten und damit in das soziale Aus. In ihrem Roman beschreibt sie zwei Frauen: Staci, in der Mitte ihres Lebens angekommen, lernte viel zu früh sexuelle Ausbeutung kennen. Ein selbstbestimmtes Leben existiert für sie nicht. Zum Überleben braucht sie einen finanzkräftigen Mann an ihrer Seite. Dieser ist der ältere Ray, der die fünfzig Jahre überschritten hat und sich nur bei exzessiven Besäufnissen wohl fühlt. Die zweite Frau ist die fast volljährige Coral, die als Kind misshandelt worden ist. Nach den Gerüchten ihres Cousins soll sie Unvorstellbares erlitten haben und absichtlich an den Ohren verletzt worden sein. Coral lebt deshalb in ihrer eigenen Welt der Stille und Wortlosigkeit. Auch Ernie hat als Kind mehr gelitten, als gut für ihn war.
Die Autorin beschreibt sehr plastisch, wie die unterschiedlichen Charaktere in Texas so etwas wie ein Familienleben aufbauen. Theoretisch hätte sie die Grausamkeiten in dem Drogenmilieu und die Kämpfe um das Geschäft inszenieren können. Es hätte reichlich Blut fließen können, und die Ausweglosigkeit einer Flucht hätte das Drama vollendet. Jardine Libaire hat einen anderen Fokus ausgewählt. In ihrem Nachwort schreibt sie, Geschichtenerzählen sei der Kern unseres Lebens. Ihr wurde beigebracht, wie Menschen sich selbst und einander heilen können. (S. 322)
Jardine Libaire: Dein Herz, ein wildes Tier
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Eva Regul
Diogenes, April 2025
336 Seiten, Hardcover Leinen, 25,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.