12 Tage sind es zu jedem Jahreswechsel. 12 Tage, in denen die kleine Stadt Chernograd von Monstern überrollt wird. Die Bewohner sind es gewohnt, bereits seit Jahren können sie die Stadt aufgrund einer Mauer nicht verlassen und fast jeder hat mindestens einen Verwandten oder Freund während der „schmutzigen Tage“ verloren. Die Hexe Kosara hat es sich zur Aufgabe gemacht, als Monsterjägerin die Menschen der Stadt zu beschützen. Sie selbst hält sich für eine höchstens mittelmäßige Hexe, die dem Zaren der Monster, dem Zmey, nicht widerstehen konnte und jedes Jahr wieder nicht kann.
Aber stur, wie sie ist, versucht sie es von Neuem jedes Jahr und dieses Jahr führt das dazu, dass sie ihren Schatten verliert. Eine Katastrophe für eine Hexe, denn es raubt ihr ihre Kräfte und bedeutet über kurz oder lang – ihn ihrem Fall eher kurz – ihren Tod. Außerdem landet sie bei dieser überhasteten Aktion im sicheren Belgograd – der Stadt hinter der Mauer und muss sich dort mit einem durchaus seltsamen Ermittler zusammentun, um überhaupt zurückzukommen und eine Chance zu haben, ihren Schatten wiederzubekommen.
Genoveva Dimova lebt heute in Schottland, wurde allerdings in Bulgarien geboren und ihre Monster entstammen der slawischen Mythologie. Der Leser lernt eine Menge über ihre Entstehung, über ihre Intention und ihre Stärken und Schwächen. Wem das nicht reicht: Der Geschichte nachgestellt ist noch das ausführliche Kompendium, das den Menschen von Chernograd helfen soll, sich selbst besser zu schützen und zu verteidigen. „Tage einer Hexe“ bringt also eine Menge erfrischend neuer Monster hervor, mal ganz abseits von den bekannten Vampiren und Werwölfen – obwohl es zumindest die Werwölfe auch gibt.
Die ersten Seiten waren ein bisschen zäh, aber einmal in der Geschichte drin fand ich sie großartig. Kosara ist ein ganz eigener Charakter, wirkt sie am Anfang fast ein wenig dumm, zeigt sich doch, dass sie sehr viel intelligenter und begabter ist, als sie selbst glaubt. Sie ist dabei stur wie ein Maulesel und neigt zu übereilten Entscheidungen, die sie immer wieder in Schwierigkeiten bringen. Für den Leser ist das ausgesprochen unterhaltsam.
„Osteuropäische Schriftstellerin“ und „Menschen durch Mauer getrennt“. Das drängt sich natürlich die Frage auf – ist das Buch auch politisch? Man kann es so lesen, wenn man unbedingt möchte, es ist aber nicht so, dass Genoveva Dimova dem Leser das ununterbrochen um die Ohren haut. Die Autorin gibt kein Geburtsdatum an, auf ihrem Foto sieht sie eigentlich zu jung aus, um den Kalten Krieg noch bewusst erlebt zu haben, auf der anderen Seite weiß ich aus eigener Erfahrung, dass die Erinnerung an diese Zeit zumindest vor zwölf Jahren bei den Menschen der ehemaligen Ostblockstaaten noch sehr präsent war. Die Mauer ist auch nicht die einzige Parallele. Da gibt es das reiche, goldene, arrogante und mitleidlose Belgograd gleich neben dem eher armen, kalten, von Monstern geplagten Chernograd. Belgograd möchte auch durchaus profitieren und es gibt jede Menge Schmuggler, die Dinge im- und exportieren. Ein direkter Handel ist untersagt. Auch für den Zmey, den Zaren der Monster, lässt sich in der Realität sicher eine Gemeinsamkeit finden. Politik in Fantasy hat ja auch alte Wurzeln, Mordor im „Herrn der Ringe“ wurde nicht nur einmal als Nazideutschland interpretiert.
Von jeder Interpretation einmal abgesehen ist „Tage einer Hexe“ ein spannender Fantasyroman mit einer – später zwei – erfrischenden Protagonisten und einem mal ganz anderen Setting, der sich nicht an die üblichen Enemy-to-Lovers-ist-ein-muss und spicy-muss-auch-noch-rein Vorgaben hält.
Ein zweiter Band ist in Englisch bereits erschienen.
Genoveva Dimova: Tage einer Hexe: Das Hexenkompendium der Monster
Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Wandel und Wieland Freund
Klett-Cotta, Oktober 2024
gebunenes Buch mit Farbschnitt, 464 Seiten, 25 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.